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Der revolutionäre Moment

4. November´89:
Der revolutionäre Moment

4. November 1989 - Großdemonstration für Freiheit und Menschenrechte

Am Morgen des 4. November 1989 zogen etwa 500.000 Demonstranten (Zeitzeugen sprachen sogar von knapp einer Million) durch die Ostberliner Innenstadt. Der Zug ging vorbei an der Volkskammer und am Staatsratsgebäude, es entstand jener revolutioäre Moment, der das Ende der DDR einleitete. Zum Abschluss fand eine Kundgebung auf dem Alexanderplatz statt, bei der zahlreiche Rednerinnen und Redner das Wort ergriffen.

4. November 1989 - Großdemonstration für Freiheit und Menschenrechte
4. November 1989 – Großdemonstration für Freiheit und Menschenrechte auf dem Alex am 4. November 1989, Stefan Heym – Foto: Archiv Anne Schäfer-Junker

Der 4. November 1989 ist vielen Menschen in besonderer Erinnerung gebliebeb, doch hat der Tag nie den Eingang in den Kalender bedeutender offizieller Gedenktage gefunden. Anne Schäfer-Junker war damals als Zeitzeugin und Fotografin (damals unter dem Namen Anne Lemke-Junker) dabei – und hat einige bis heute unveröffentlichte Fotos von dem Tag freigegeben.

Die Demonstration mit der Abschlusskundgebung ist der wohl wichtigste Höhepunkt der Demokratiebewegung in der DDR.

Vorspiel im Oktober 1989 und Anmeldung der ersten freien Demonstration in der DDR

während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR fand am 15. Oktober 1989 eine Versammlung von 800 Theaterleuten in Berlin statt, auf der als erste Jutta Wachowiak den Vorschlag einer Demonstration für eine demokratische DDR machte. Wachowiaks Vorschlag entstand auf Anregung des Neuen Forums. Am 17. Oktober 1989 stellte eine Gruppe von Theaterleuten den Antrag auf Zulassung einer Demonstration für die Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR, der am 26. Oktober 1989 genehmigt wurde. Als offizielle Veranstalter fungierten die Künstler der Berliner Theater, der Verband der Bildenden Künstler, der Verband der Film- und Fernsehschaffenden und das Komitee für Unterhaltungskunst.

Von den Organisatoren war die Veranstaltung offiziell angemeldet worden, um die in der Verfassung der DDR zwar verankerten, aber von der Staatsmacht nie gewährten Grundrechte auf Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit einzuklagen. Mit der Polizei, die kaum in Erscheinung trat, war eine Sicherheitspartnerschaft vereinbart worden, Schauspieler mit grün-gelben Schärpen und der Aufschrift »Keine Gewalt« wirkten als Ordner.

Heiner Müller im "Espresso" am 4.11.1989
Heiner Müller im „Espresso“ am 4.11.1989 mit Steffi Spira (sowie am Tisch Christa Wolf, Gerhard Wolf, Dieter Krebs) vor der Großdemonstration für Freiheit und Menschenrechte – © Archiv Schäfer-Junker, Foto: Anne Lemke-Junker

Vorbereitung im ‚Espresso‘ am Alexanderplatz

Die große Demonstration geschah nicht ohne Vorbereitung. Im damaligen damaligen ‚Espresso‘ am Alexanderplatz trafen sich Theaterleute, Theaterdramaturgen, Schauspieler, Autoren, Politiker und Journalisten vor den Reden auf dem Alexanderplatz zur Vorbesprechung.

Vor allem die Künstler und Theaterleute hatten miteinander diskutiert, Reden vorbereitet und die Regie abgesprochen.

Henning Schaller, Grafiker und Bühnenbildner, war einer der Organisatoren. Er erzählte später: »Schon im Voraus hatte es handfeste Diskussionen und Unstimmigkeiten dazu gegeben, wen man … reden lassen soll. Redner wie Markus Wolf, Günther Schabowski und Manfred Gerlach wurden von vielen kritisiert. Ich aber war der Meinung, dass das Rednerspektrum so breit gefächert sein sollte, wie das, das die gesamte zu Ende gehende DDR zu bieten hatte … Immer wieder mussten wir dann aber die bei den Hardlinern aufbrausende Menschenmenge auffordern, sie reden zu lassen und genau zuzuhören, denn oft genug entlarvten sich diese Redner selbst.« (Henning Schaller)

Der kürzlich verstorbene Günther Schabowski, damals 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, und Mitglied des Politbüros, war auch im ‚Espresso‘ zugegen. Dessen im Foto eingefangener Blick bringt wohl alle Besorgnisse des alten DDR-Regimes zum Ausdruck.

"Espresso" am Alex 4.11.1989
‚Espresso‘ am Alex 4.11.1989 – Günter Schabowski (1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Mitglied des Politbüros) – Foto: Archiv Schäfer-Junker, Foto: Anne Lemke-Junker

An diesem Tag wurde von hunderttausenden Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz demokratischen Ansprüche auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit eingefordert. Sie eroberten den öffentlichen Raum, und brachten ihr neues Denken zur Sprache.

Der „Alex“ wurde plötzlich Ort der Begegnung, des Gesprächs und der öffentlichen Selbstdarstellung der sich emanzipierenden Bürgerschaft.

Mit der Rede von Markus Wolf wurde der Umschlagpunkt erreicht. Bärbel Bohley, stand in der Nähe von Markus Wolf und sagte später:

„Als ich sah, daß seine (Markus Wolfs) Hände zitterten, weil die Leute gepfiffen haben, da sagte ich zu Jens Reich: So, jetzt können wir gehen, jetzt ist alles gelaufen. Die Revolution ist unumkehrbar.“

Stefan Heyms vollendete mit seiner Rede und seine Autorität den Moment der friedlichen Revolution:

„Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen! Nach all‘ den Jahren der Stagnation – der geistigen, wirtschaftlichen, politischen; – den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. […] Einer schrieb mir – und der Mann hat recht: Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen!“

Das Fernsehen der DDR zeigte die Demonstration der Demokratiebewegung in einer Live-Übertragung. Der Kommentator stellte u.a. fest: »Das Volk hat seine Sprachlosigkeit überwunden«.

Am selben Tag fanden auch in vielen anderen Städten der DDR große Protestkundgebungen statt.

"Espresso" am Alex 4.11.1989
„Espresso“ am Alex 4.11.1989 – Christa Wolf – Foto: Archiv Schäfer-Junker, Foto: Anne Lemke-Junker

Die lange Liste der Rednerinnen und Redner zeigte, wie sehr der „revolutionäre Moment“ von Künstlern und Kulturschaffenden bestimmt war, und diesen Tag eine besondere Wirkung verlieh, die den Kontrollverlust des alten Regimes einleitete:

Marion van de Kamp (Schauspielerin) | Johanna Schall (Schauspielerin) | Ulrich Mühe (Schauspieler) | Jan Josef Liefers (Schauspieler) | Gregor Gysi (Rechtsanwalt) |Marianne Birthler (Katechetin, Initiative für Frieden und Menschenrechte) |
Kurt Demmler (Sänger, sang das Lied »Irgendwer ist immer dabei«) | Markus Wolf (Generaloberst a.D. des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR) | Jens Reich (Molekularbiologe, Gründungsmitglied Neues Forum) | Manfred Gerlach (Vorsitzender der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands) | Ekkehard Schall (Schauspieler) | Günter Schabowski (1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Mitglied des Politbüros) | Stefan Heym (Schriftsteller) | Friedrich Schorlemmer (Theologe) | Christa Wolf (Schriftstellerin) | Tobias Langhoff (Schauspieler) | Annekathrin Bürger (Schauspielerin, sang »Worte eines politischen Gefangenen an Stalin«) | Joachim Tschirner (Dokumentarfilmregisseur) | Klaus Baschleben (Journalist) | Heiner Müller (Schriftsteller) | Lothar Bisky (Kulturwissenschaftler, Rektor der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg) | Roland Freitag (Student, Humboldt-Universität zu Berlin) | Christoph Hein (Schriftsteller) | Robert Juhoras (Student, Universität Budapest) |
Konrad Elmer (Dozent) | Steffi Spira (Schauspielerin)

Der 4. November 1989 wurde zum Markstein und Wendepunkt, nach dem die SED-Führung an den Forderungen der Demonstraten und Bürger nicht mehr vorbei kam. Es gab danach keinen Weg mehr zurück zu den zu alten Herrschaftspraktiken. Es war ein revolutionärer Moment, der zum wichtigen Wendepunkt einer friedlichen Revolution wurde.

"Espresso" am Alex 4.11.1989
„Espresso“ am Alex 4.11.1989 – Manfred Gerlach und Stefan Heym – Foto: Archiv Schäfer-Junker, Foto: Anne Lemke-Junker

Mehr Informationen:

www.chronikderwende.de

Dokumentation im Deutschen Historischen Museum: 4.November 1989