Dienstag, 19. März 2024
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or should I go?“

UK: „Should I stay
or should I go?“

4. Europadialog an der FU-Berlin am 28.6.2016

Der 4. Berliner Europa-Dialog an der Freien Universität widmete sich der Brexit-Entscheidung. Das Motto: Should I stay or should I go? Das Vereinigte Königreich nach dem Referendum. Es spielte auf einen Song der Band Clash an, dessen Refrain das Dilemma des Brexit umschreibt: „Should I stay or should I go now? If I go there will be trouble – An‘ if I stay it will be double – So come on and let me know. Die Podiumsdiskussion war prominent besetzt.

4. Europadialog an der FU-Berlin am 28.6.2016
4. Europadialog an der FU-Berlin am 28.6.2016: Philipp Oltermann, Elisabeth Kotthaus, Dr. Nicolai von Ondarza, Prof. Dr. Tanja A. Börzel (v.ln.r.)

Mit Dr. Nicolai von Ondarza, stellv. Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) war ein ausgewiesener EU-Experte auf dem Podium. Elisabeth Kotthaus, stellvertretende Leiterin der politischen Abteilung, der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland brachte das notwendige „Bruxelles-Feeling“ mit.
Und Philip Oltermann, Berlin Bureau Chief der Zeitung The Guardian konnte als Deutscher mit 18 Jahren England-Erfahrung sowohl Überblick als auch Empathie mitbringen.
Die Moderation oblag Prof. Dr. Tanja A. Börzel, Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration der Freien Universität Berlin.

Die Veranstaltungseinladung war noch vor dem Referendum am 23.6. veröffentlicht worden, als noch Unsicherheit über dessen Ausgang herrschte:

„Das Vereinigte Königreich ist die nach Deutschland zweitgrößte Volkswirtschaft in der Europäischen Union und verfügt über die höchsten Militärausgaben innerhalb der EU. Ein Austritt hätte also ohne Zweifel Folgen: für das Budget der EU, für das innere Gleichgewicht sowie für das äußere Auftreten.

Es steht einiges auf dem Spiel – für die Europäische Union, vor allem aber für das Vereinigte Königreich selbst: Im Falle eines BREXITs droht ein weiteres Referendum über eine mögliche Unabhängigkeit Schottlands. Aus dem für London zentralen Finanzsektor könnten viele Jobs, nach Schätzungen bis zu 20.000, zu Banken nach Frankfurt/Main verlagert werden.

Wie und warum werden Engländer, Schotten, Waliser und Nordiren entschieden haben? Welche Folgen wird ihre Entscheidung haben – sowohl bei einer Mehrheit für stay als auch bei einer Mehrheit für leave? Verfügen London oder Brüssel über einen Plan B?“

Voller Saal – besorgte Atmosphäre zum Brexit

Der Saal im Henry-Ford Bau der Freien Universität war gut besucht, im Publikum und auf dem Podium war noch immer eine große Betroffenheit zu spüren. Neben vielen Studentinnen und Studenten waren auch viele ältere Mitglieder der deutsch-britischen Communities in Berlin gekommen.

Dr. Ondarza kam als erster Experte zu Wort, und warnte sogleich am Beispiel Grönlands: dessen „Austritt“ aus Dänemark habe drei Jahre gedauert, und dabei ging es vorwiegend um Fischerei. Er vertrat die Ansicht, dass die Brexit-Entscheidung sowohl für das Leave-Lager als auch das Remain-Lager überraschend gekommen sei. Das Kalkül der Populisten um Boris Johnson sei nicht aufgegangen, und sie seien nun ohne Konzept. Cameron habe mit seinem Rücktritt womöglich einen strategischen Schritt unternommen, der die Nationalisten um die Mehrheitsfähigkeit bringt.

Ondarza erinnerte auch daran, dass der Artikel 50 des EU Vertrages als Option, die niemals eintreten möge, formuliert wurde. Deshalb sein es ein „Artikel ohne Plan“. Er rechnet deshalb mit einem längeren Austrittsprozeß, bei dem Großbritannien EU-Mitglied mit vollen Vetoechten bleibt.

Ein Rat an führende EU-Politiker

Zu dem Drängen von Kommissionsprädident Jucker und Parlamentspräsident für einen schnellen Brexit hatte Ondarza einen schlichten Rat: „Hätten sie doch besser erst den Eu-Vertrag gelesen; “ und gab zu erkennen, dann es noch mehrere Jahre, dauern werde.

EU als Projektionsfläche für nationales Versagen

Elisabeth Kotthaus verwies drauf, dass auch in Brüssel alle von dem Ergebnis überrascht wurden. Alle hätten mit einem knappen Votum gerechnet. Sie verwies drauf, dass es den Unterstützern des Remain-Lagers offenbar nicht gelungen war, die Menschen zu überzeugen, für den Verbleibt in der EU einzutreten. Kotthaus räumte ein, das es Zuwanderungsfragen das EU-Thema überlagert hatten. Sie verwies auch auf die Zuständigkeiten der nationalen Regierungen, die es sich immer zu leicht machen, und Reformen selbst verweigern – um danach Brüssel als Schuldigen auszumachen. Kotthaus konnte sich auch gut vorstellen, das es ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum Schottlands geben wird. Auch die Iren fühlen sich nach ihrer Aussage nicht mehr gut vertreten.
Das Problem: wenn Großbritannien aus der EU austritt, wird wieder es eine Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland geben. Kotthaus sieht die EU zu Unrecht im Fokus der Brexit-Befürworter. Nach ihrer Ansicht wurden Probleme in Großbritannien auf die EU projiziert.

4. Europadialog an der FU-Berlin am 28.6.2016
4. Europadialog an der FU-Berlin am 28.6.2016: Philipp Oltermann, Elisabeth Kotthaus, Dr. Nicolai von Ondarza, Prof. Dr. Tanja A. Börzel (v.ln.r.)

Frau Kotthaus machte auch darauf aufmerksam, dass die britische Regierung selbst noch vor dem Referendum vor den Folgen gewarnt hatte und dazu umfangreiche Informationen im Internet veröffentlicht hatte. Darin geht die britische Regierung im Falle eines Brexit von einem mehrjährigen Auutrittsprozess aus ( Britisch Government: Research and analysis | Why the government believes that voting to remain in the EU is the best decision for the UK – with references | 6.4.2016 ). Der Link wurde nachträglich redaktionell eingefügt.

Brexit – Lügenkampagne schafft neue Dilemmata

Philip Oltermann, Leiter des Berliner Büros von The Guardian & The Observer gab kund, dass auch die Brexit-Befürworter von dem Ausgang des Referendums überrascht wurden. Der Schachzug von David Cameron mit dem Rücktritt hat womöglich eine beabsichtigte Strategie einer „Dolchstoßlegende“ der Brexit-Befürworter Boris Johnson und Nigel Farage durchkreuzt.
Oltermann sieht nun eine Art Schwebzustand in dem es drauf ankomme, die Märkte und die wirtschaftliche Lage zu beruhigen. Zudem stelle sich die Frage, wie und wann Großbritannien Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union aktiviere.

Oltermann verwies darauf, dass die Brexit-Kampagne mit Lügen geführt wurde. Er sei auch besorgt, über die wachsende Ausländerfeindlichkeit, die sich auch gegen andere EU-Bürger richte. Oltermann hat selbst als Deutscher 18 Jahre lang in Großbritannien gelebt. Er sieht die Vertreter des Leave-Lagers in der Pflicht, auf die Ängste der EU-Bürger einzugehen.

Oltermann sorgt sich auch, das es in Großbritannien keine Politiker mehr gibt, die für Europa eintreten. Da Großbritannien einen Verbleib im Binnenmarkt anstrebt, muss auch die Freizügigkeit gewahrt bleiben. Hier sieht Oltermann die größte Sorge darin, dass möglicherweise in einem Jahr festzustellen ist, dass die Einwanderung nicht nachlässt.

In der Publikumsrunde gab es einen eher heiteren Moment, als ein junger Politikstudent sich äußerte, der gerade von seiner Englandreise zurückkam, und traurig bekundete: „Leider habe ich den Brexit nicht verhindern können“. Das Publikum lachte freundlich über soviel Engagement. Der Student bemängelte ein Fehlen von Optimismus und sah auch ein fehlendes Engagement für Europa.

Themen die nicht diskutiert wurden

Die Diskussion war noch von der Aktualität und den Schock der Brexit-Entscheidung geprägt. Tiefergehende Ursachen des Unbehagens an der EU wurden nicht angesprochen. Ein Teilnehmer erinnerte daran, dass in Großbritannien noch immer ein Klassensystem herrsche, das politische Reformen erschwert. Der Brexit schafft nun eine Zäsur, die das Thema für lange Zeit in Europa in der Diskussion halten wird und das Fundament der Europäischen Union berührt. Ein Auseinanderbrechen der EU ist dabei nicht mehr ausgeschlossen.

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Zur Konstituierung der Europäischen Union als Wirtschaftsgemeinschaft: Der Gegensatz von Kapitalismus und Demokratie.

DEUTSCHLANFUNK: Dossier Barbara Eisenmann
Stille Revolution: Von der Verrechtlichung neoliberaler Verhältnisse in der EU

EFSF, EFSM, ESM et cetera. Seit 2010 folgen sich in der EU krisenbedingt Reformvorschläge und neue Regelungen in derart dichter Abfolge, dass selbst genaue Beobachter leicht den Überblick verlieren. All diesen neuen Instrumenten wohnen rechtliche Verschiebungen inne, die von kritischen Europarechtswissenschaftlern sehr genau analysiert werden.