Donnerstag, 28. März 2024
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Wurstigkeit bedrohen Kultur

Mangel an Respekt &
Wurstigkeit bedrohen Kultur

Claus Peymann

/// Kommentar /// – Berlin steht eine neue kulturpolitische Debatte bevor. Der Wechsel im Amt des Kultursenators von Klaus Wowereit zu Michael Müller hat der Berliner Kulturszene bereits ein unfreiwilliges Interegnum beschert. Der vorige Wechsel im Amt der Kulturstaatssekretärs, vom allseits beliebten André Schmitz zu umtriebigen aber öffentlich eher schweigsamen Tim Renner, hatte zuvor schon für eine unfreiwillige Phase anhaltender Unsicherheit gesorgt.

Claus Peymann
Claus Peymann – Screenshot: www.kulturzeit.de

Hinter den Kulissen wird dennoch gearbeitet, Renner hat viele Orte der freien Szene besucht, sich aber bislang eher aus den großen Stätten des Berliner Kulturbetriebes herausgehalten. Renners Idee vom „Life-Streaming“ von Theaterpremieren stieß in der Theaterszene sofort auf wütende Ablehnung.

Doch die „Digital Concert Hall“ begeistert mit digital übertragenen Konzertpremieren der Berliner Philharmoniker ein weltweites Internet-Abo-Publikum bis nach Japan. Auch die digital übertragenden Premieren der Metropolitain Opera New York im Kino der Kulturbrauerei lassen ahnen, dass es eine veritable Koexistenz von Bühne und digitaler Projektion geben kann.

Insgesamt beschert die wachsende Stadt einen stabilen Kulturhaushalt. Auch die „regierende“ Kulturstaatsministerin Dr. Monika Grütters agiert mit viel Elan und Geschick, und hat mit dem künftigen „Museum der Moderne“ und der Beuys-Sammlung von Erich Marx zwei ganz wichtige Zukunftsprojekte für die Kunst in Berlin aufgelegt. Eigentlich könnte in Berlin die „Kultursonne“ scheinen.

Kultur vor neuen Zwängen – Hotels im digitalen Wahn

Doch bei genauer Betrachtung werden Kultur und Kulturpolitik zur nächsten Großbaustelle in Berlin. Und daran ist nicht nur die von Planungsunzulänglichkeiten und Baugrundrisiken geplagte Baustelle der Staatsoper Unter den Linden schuld, deren Mehrkosten von 93 Millionen auf rund 390 Millionen Euro steigen, und auch im Berliner Kulturhaushalt zu Buche schlagen werden.

Auch das letzte wichtige Versprechen aus der Amtszeit von Klaus Wowereit wurde unter Haushaltsvorbehalt gestellt: das Geld aus der City Tax steht der freien Szene und der Kultur bislang nicht zur Verfügung. Die inzwischen über 30 Millionen € Einnahmen aus der „Übernachtungssteuer“ „schlafen“ nun ungenutzt vor sich hin, bis ein Gericht über die Rechtmäßigkeit des „ÜnStG“ entschieden hat.

Gleichzeitig geben die Berliner Hotels Millionen Euro für aberwitzige Internetwerbung und Hotelprovisionen aus, weil man sich im Suchmaschinen-Optimierungswahn befindet, und nicht auf den bodenständigen Gedanken kommt, Hauptstadtbesucher könnten zuerst nach dem Theater und dann erst nach dem Bett schauen.

Tim Renner begann bescheiden

Tim Renner hatte sich bei seinem Amtsantritt eher bescheiden gezeigt, er wollte sich in den verbleibenden zwei Jahren Amtszeit bis zum Ende der Legislaturperiode vor allem um die „Räume“, auch um Transparenz” und “bessere Förderbedingungen und Formulare” kümmern. Und er will auch für bessere Verfahren, mehr Wettbewerbe in der Kunst sorgen, wie er im Oktober 2014 vorsichtig zu erkennen gab.
Renner war wohl auch klug und realistisch genug, gar nicht erst ein Umsteuerun im rund 400 Millionen Euro schweren Kulturetat mit dem Doppelhaushalt 2015/2016 zu versuchen.
Vor allem gibt es in Berlin noch immer keine politisch breit abgestimmte Kulturentwicklungsplanung – ein Defizit, das Renner kaum in zwei Jahren beheben kann.

Harte Sparpolitik, Wowereits eher salopper Führungsstil in Sachen Kultur, und die schwierigen Einzelabstimmungen mit dem Bund um die Hauptstadtkultur, haben zwar erfolgreiche Projekte auf den Weg gebracht. Aber ein für Planungssicherheit sorgender Kulturentwicklungsplan für Berlin existiert nicht. Die langen Diskussionen um eine Kunsthalle und um eine neue Landesbibliothek haben auch viel Zeit gekostet, die nun fehlt, um konzeptionell neu anzusetzen.

Tim Renner bei seiner Amtseinführung
Tim Renner bei seiner Amtseinführung am 27.2.2014 – Foto: Screenshot YouTube

Kunst und Künstler im Mittelpunkt?

Mit der Präsentation der Studie ART CITY LAB, die noch vom Regierenden Bürgermeister Müller in seiner vormaligen Funktion als Senator für Stadtentwicklung und Umwelt in Auftrag gegeben wurde, wollen Müller und Renner nun die drängende Raumfrage für die Künstler lösen. Die vom bbk berlin initiierten Studie, durchgeführt vom renommierten Architekturbüro raumlaborberlin, ist so etwas wie eine „Toolbox an baulichen und organisatorischen Maßnahmen“ zur Umsetzung eines Ausbaus der Berliner Atelierförderung.

Doch hier bahnt sich schon Ärger an! Atelierbeauftragter Florian Schmidt schreibt: „Der Senatskulturverwaltung schwebt gegenwärtig die Schaffung einer einheitlichen Struktur zur Entwicklung und Herstellung von räumlicher Infrastruktur für alle Sparten der Freien Szene vor. Dabei soll der Atelierbeauftragte zu einem spartenübergreifenden Raumbeauftragten werden und vom Atelierbüro im Kulturwerk des bbk berlin abgetrennt werden.“
Ob es ein zukunftstauglicher Ansatz ist, muß sich aber erst zeigen. Ein Land Berlin, das seinen Liegenschaftsfond auflöst, ein eigenes Immobilienmanagement betreibt und dessen Kultursenat zusätzlich eine neue „Liegenschaftsverwaltungs- und -Förderstelle für selbstverwaltete Kunst und Freie Szene gründet, sieht etwas aktionistisch aus. Das Abenteuer könnte schnell in personelle und finanzielle Überforderung münden, denn 7000 von bis zu 10.000 Künstlern suchen neue Ateliers.

„Welt.Stadt.Berlin“ im Stadtschloß

Die Idee, kurz vor dem Richtfest des Stadtschloß eine Planänderung vorzunehmen, stieß auf Kritik. In einem Gastbeitrag für den TAGESSPIEGEL (14.3.2015) zeigte der Regierende Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller seine kulturpolitischen Ambitionen: „Zeigen, was Berlin zur Weltstadt macht!“
„Ich bin erst seit knapp 90 Tagen im Amt“, konterte Müller die Kritiker, es müsse ihm erlaubt sein, auf das wichtigste Kulturbauvorhaben Berlins Einfluss zu nehmen.
Die Formulierungen waren etwas bollerig, etwas genauer hätte es heißen müssen: „das größte Kulturbauvorhaben des Bundes in Berlin“ – aber solche Feinheiten spielen in der Diskussion um Kulturfragen eine untergeordnete Rolle. Immerhin: 12 Jahre nach der Verabschiedung des Programms dreht nun Müller am Stadtschloß auf, und will uns ein Innenleben zeigen, „das uns staunen machen wird.“
„Staunen“ – im Duden steht „aus den Latschen/Pantinen kippen, Bauklötze[r] staunen, dumm/blöd aus der Wäsche gucken, [dumm] gucken, [große] Augen machen, mit den Ohren schlackern, Mund und Augen/Nase aufreißen/aufsperren, perplex sein, platt/von den Socken sein, seinen [eigenen] Augen nicht trauen; (salopp) baff/geplättet sein.“

Unter dem Titel „Welt.Stadt.Berlin“ soll „interaktiv erlebbar werden, was Berlin zur Weltstadt werden ließ“. Voller Sendungsbewußtsein wird formuliert: „Thematisch orientiert wird erzählt, wie in den letzten 200 Jahren Berlin die Welt und die Welt Berlin veränderte“, so steht es im Papier, das Müller den Ausschussmitgliedern aushändigte.

Die Bundes-Kulturpolitik darf sich nun auf neue 4.000 Quadratmeter „Gründerzeit-Industrie-Geschichts-Kultur- und Stadtmuseum“ im Stadtschloß freuen und erleben, wie sich die „bürgermeisterliche Gedankenwelt“ des Berliner Landesvaters mit dem kulturellen Anspruch der Bundeshauptstadt unter einem Dach vereinen lässt.
Natürlich wurde alles bedacht, das multikulturelle Publikum der Berlin-Touristen und Schloßbesucher bekommt ein Konzentrat geboten: „Eine Metropole, zwei Jahrhunderte, große Erzählungen, die keine Rührstücke sind und den Sachverhalten und Zeitläufen keine Gewalt antun“.

Claus Peymann schreibt einen Brief

Claus Peymann muss nächtelang wach gelegen haben, bevor er sich entschloss, in seinem hohen Alter einen Brandbrief zu schreiben, der wirklich „Staunen macht“. Ihn treibt das Theater um, wenn man ihn kennt. Es ist nie nur sein Theater, sondern immer das ganze Theater, die Gattung, die Theaterwelt.

Diese steht tatsächlich vor völlig irrwitzigen und modernen Herausforderungen. Das Verschwinden der Theater ist eine reale Gefahr, die Welt der Sprache ändert sich, die sprachliche Performativität im sozialen Netz und im Theater streben auseinander – die Generation Smartphone verliert die Perzeptionsfähigkeit und den Kontext, die Theater erst zur Kunst werden lassen.

Angesichts des im lesbaren Text und im Kulissenecho vernehmbaren heraufziehenden „Kulturpolitik-Theaters“ blieb Peymann aus seiner Sicht wohl keine Wahl: er mußte intervenieren, deftig, respektlos. Angesichts des „fast noch bübischen Alters“ des Kulturstaatssekretärs Renner schrieb Peymann aus etwas zu sehr „überhöhter Perspektive“.

Ich hätte zu etwas mehr Vorsicht geraten, denn Kulturpolitik ist derzeit in Berlin politisch, intellektuell und personell vom Wandel überfordert. Es gibt das schreckliche Phänomen der „Anforderungsüberlastung“, das schon am Fluhafen BER zu einer bautechnischen Katastrophe führte. Ein Konzept für die Berliner Theaterlandschaft braucht Zeit, Zeit zum Reden, auch Übersicht und treffliche Analyse.

Doch zeitliche Notwendigkeiten, Intendanturen und Vorplanungen laufen eigenmächtig, vor Entscheidungen stehen sondierende Gespräche, die in einer aufmerksamen Medienstadt natürlich auch dräuende Töne in der Kulisse erzeugen.

Für Peymann war schon die Zukunft der Volksbühne bedroht – und er hat Recht, wenn er vor der Umwandlung in einen „Eventschuppen“ warnt.
Auch als Berliner muß man besorgt sein, wie in schneller Folge Wandel eher zu Brüchen, Abbrüchen und unwiderbringlichen Verlusten führt. Wir haben es längst nicht mehr nur mit kulturellen Wandel, sondern mit einer Kultur der Kulturbruchs zu tun, die nach kurzen Phasen des Hypes zur Zerstörung führt.

Peymann: „Die Kulturpolitik in Berlin gibt sich global-universal – und ist doch nur tief-provinziell. Geschichtsbewußtsein und Sachkenntnis: Fehlanzeige. Der Nimbus Berlins als Theaterhauptstadt Europas, neben Paris und London, wird so leichtfertig verspielt.“ Der Gipfel von Peymanns Respektlosigkeit war zugleich das vorläufige endzeitdramatische Schlußwort:

„Mein Gesprächswunsch hat sich im übrigen erledigt, denn inzwischen pfeifen es die Spatzen ohnehin von allen Berliner Dächern:
Der Kulturstaatssekretär Tim Renner ist die größte Fehlbesetzung des Jahrzehnts.“

Tim Renner verärgert, verfällt in Wurstigkeit

Tim Renner war offensichtlich hoch verärgert, und antwortete auf Senatskanzleipapier im Stil eines „Nachrufes“:

„Claus Peymann war als Regisseur stilprägend. Wir sind froh, mit ihm im Berliner Ensemble noch eine Weile zusammen zu arbeiten und verstehen sowohl, dass er als scheidender Intendant von Wehmut geprägt ist, bedauern andererseits, dass er nur noch bedingt für Änderungen und Neuerungen offen zu sein scheint. Unverständlich ist jedoch, dass er sich bezüglich der von ihm häufig kritisierten Volksbühne an der Verbreitungen von Spekulationen und Gerüchten beteiligt.“

Nun ist öffentlich Porzellan zerschlagen, und alle Beteiligten turnen nur nackt in der Zirkuskuppel. Tim Renner hat sich selbst keinen Gefallen getan. Als Kulturstaatsekretär muss er wissen, welche Wirkung er als Autor seines lesenswerten Buches »Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm – Über die Zukunft der Musik- und Medienindustrie« beschert, wenn ausgerechnet er mit Theaterleuten streitet.

Theater brauchen Langzeitperspektive, leben als Häuser nur mit lebendigen Traditionen – und überleben nur als kompliziertes Geflecht von Personen, die sich gegenseitig beständig neue Perpektiven bauen.

Auch die Kulturstadt Berlin braucht den Dialog in der Theaterwelt, in der Kulturwelt – den Widerstreit der Positionen und Meinungen.

Vor allem sollte diese „Berliner Singularität“ als wertvoller Schatz begriffen werden:

leitende Protagonisten im „bübischen“ und im „biblischen Alter“ können hier aufeinandertreffen – und womöglich generationsübergreifend Ängste, Nöte und Erfahrungswelten, Inspirationen und Entwürfe miteinander austauschen.

Tim Renner noch immer schwanger – wann kommt was?

Am 27. Februar 2015 war Tim Renner genau ein Jahr im Amt. Er ist der erste Kulturstaatssekreträr, der zwei ganz unterschiedliche Regierende Bürgermeister kennenlernen durfte, und damit in ein merkwürdiges Interregnum hineingeriet.

Er verdient etwas mehr Geduld und Respekt, denn Berlin, die „Creative City“, die „Kulturstadt“ und die „Theaterstadt“ erfindet sich gerade einmal wieder neu – und lässt bislang nur wenige dabei zuschauen.

Vor allem: niemand sitzt bislang im Hubschrauber und überblickt das ganze Feld des laufenden Wandels.

Renner ist jedoch etwas mehr Mut zur eigenen Rede zu wünschen, denn die Kulturstadt Berlin braucht das orientierende Wort.

Alte Pläne, alte Gewißheiten und Konventionen müssen zwangsläufig mit dem Neuen ins Gedränge geraten, bevor wir alles Neue schon verstehen lernen. Für den kultivierten Widerstreit, für das verbissene Feuilleton-Gefecht und für die Philippika reift womöglich gerade eine neue Zeit heran.

Doch wir müssen aufpassen, mit den Kulturbrüchen nicht die ganzen „Badeanstalten“ zu zerbrechen, oder auszuleeren. Das Bewahren und Fortentwickeln ist womöglich die höchste Kunst, die aber nur aus Perspektive alter und erfahrener Köpfe sichtbar ist.

Der beste Rat ist im Moment, mehr über den laufenden Wandel in Erfahrung zu bringen, Beobachten, Verstehen, Lernen – und dann erst etwas tun. Die Köpfe von Intendanten und Politikern sollten eigentlich in zeitlichen Dimensionen einig sein: zwei, drei oder fünf Jahre Vordenken können auch bis zu 5 Jahre Stabilität organisieren helfen.

Zuerst muß der Wurstigkeit in Berlin der Kampf angesagt werden. Es muss um mehr Respekt gerungen werden, damit ein Gespräch in der Stadt über Kultur in Gang kommt.

Bevor der „Tiger des Theaterwandels“ bei den „Hörnern gepackt“ werden kann, bevor das „Deck des Tankers Kulturstadt“ zum Bühnen- und Tanzboden umgestaltet wird, sind Übersicht und Augenmaß gefordert.

Mehr Respekt gegenüber dem Publikum ist auch gefragt. Kultur in Berlin sollte locken und inspirieren. Kulturpolitik kann selbst schön sein – noch vor dem Staunen! Man muß auch nicht gleich eine „Glamour-Entfaltungskommission“ in Gang setzen!

Weitere Informationen:

Peymann disst Renner – 3Sat Videothek http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/181296/index.html