War es ein Versehen? Oder gehört es zur Strategie? Amazon hat in der letzten Woche eine Book-Flatrate für die USA angekündigt, bei der zum monatlichen Preis von 9,99 Dollar rund 600.000 Buchtitel zugreifbar sind – neben Erfolgstiteln wie “Lord of the Rings”, “The Hunger Games” und Harry Potter.
In der Liste waren auffallend stark Bücher von Amazons eigenen Imprint-Verlagen vertreten. In dem kurzzeitig sichtbar gewordenen Angebot waren auch Titel der Kindle-Leihbücherei enthalten, die den zahlenden Amazon-Prime-Kunden zur Verfügung steht. Amazon-Prime-Kunden können bisher nur jeweils einen Titel im Monat entleihen.
Angriff auf die gesamte Buchbranche
Die Idee mit der Buch-Flatrate ist nicht neu, doch wenn Amazon mit der Flat-Rate loslegt, droht den traditionellen Buchverlagen große Gefahr.
Auch bisherige Dienste wie Oyster und Scribd geraten unter Druck. Sie bieten zum monatlichen Preis zwischen 8,99 Dollar bis 9,95 Dollarschon länger E-Books zur Lektüre über Apps für iOS-Geräte, Android-Geräte oder Amazons Kindle-Fire-Tablets an.
Diese Dienste bedienen bislang ein unbedeutendes Marktsegment, die Titelauswahl ist auf eher unbekannte Autoren, wenige überragende Buchtitel und Spezialinteressen begrenzt. Die Abonnentenzahlen sind überschaubar.
Amazon denkt nun offenbar daran, mit der Einführung der E-Book-Flatrate den Markt aufzurollen. “Kindle Unlimited” hat ein große Marktpotential im Visier. Der unbegrenzte Zugriff auf über 600.000 E-Books und tausende Hörbücher übersteigt bisherige Dimensionen.
Bekannt wurden die neuen AMAZON-Pläne durch Webseiten, die das neue „Kindle Unlimited“-Angebot bewarben. Inzwischen sind die Seiten wieder vom Netz verschwunden, jedoch einzelne Seiten können noch über den Google-Cache eingesehen werden.
Amazon wird künftig alles daran setzen, um wichtige Verlage für eine Book-Flatrate-Zusammenarbeit zu gewinnen. Das bereits bei YouTube erschienene Werbevideo zeigt auch: es gibt eine ernsthafte Planung.
In den USA tobt der Kampf um das Buch
Zuerst entdeckt wurde Amazons neues Book-Flatrate-Testangebot von Nutzern des unabhängigen Kindle-Leser-Forums Kboards. Was auffiel: Büchern der fünf größten US-Verlagskonzerne Hachette, Macmillan, Penguin Random House, HarperCollins sowie Simon & Schuster waren nicht vertreten.
Alle Verlagen kämpfen derzeit mit Amazon in schwierigen Verhandlungen um Preise und Konditionen für E-Books. Mit den beiden Verlagsgruppen Verlagsgruppen Hachette sowie Bonnier gibt es sogar eine harte Konfrontation mit Amazon.
Auch die Integration des Amazon Dienstes Audible weckt keine Begeisterung bei den Verlagen, Amazon hat bereits rund 8.000 Hörbücher in diesem Dienst verfügbar. Amazons „Whispersync-Funktion“ ist auch eine geniale Entwicklung für mobile Literaturfreunde, weil Buchtitel damit medienübergreifend nutzbar sind.
Abonenten von „Kindle Unlimited“ können zwischen verschiedenen Versionenaktuell gelesenen Bücher springen: Zu Hause lesen, im Auto an der gleichen Lesemarke mit dem Hörbuch fortfahren, und am Feierabend wieder zum eBook zurückkehren und weiterlesen.
Handelskonditionen und Bedrohungssenario für den klassischen Verlag
Amazon setzt jetzt schon die Buchverlage kräftig unter Druck, indem Vorrats-Lagerhaltung, Verfügbarkeit Nachlieferung zu niedrigen Konditionen verhandelt werden.
Mit der Flat-Rate kommt für Verlage ein völlig bedrohliches Preismodell:
Amazon will den Großhandelspreis für ein E-Book erst bezahlen, sobald der Leser einen bestimmten Prozentsatz des Buches gelesen hat. Für stark gefragte Titel soll Amazon jedoch mit einzelnen Verlagen individuell verhandelt haben.
So verlautbarte, dass beispielsweise die Verlage für die Harry-Potter-Reihe und Hunger-Games-Bücher schon dann ihr Geld bekommen, wenn ein Leser das E-Book öffnet.
Amazon senkt auf diese Weise seinen Eigenkapitalbedarf – und drückt dabei sämtliche Vertriebskosten und das Risiko.
Autoren bei Amazon ohne Mitsprache
Für Autoren, die ihre Bücher im Selbstverlag über Amazons KDP-Select veröffentlichen, gibt es bisher erkennbar kein spezielles Mitspracherecht darüber, ob ihre Bücher in Kindle-Unlimited aufgenommen werden oder nicht. Im Kindle-Forum wurde sogar behauptet, dass Amazon sich das Recht vorbehält, die Entscheidung über den Vertriebskanal selbst zu treffen. Auch für die eBook-Autoren gibt es ein besonderes Preismodell: sie werden bezahlt, sobald ein Leser mehr als zehn Prozent des E-Books gelesen hat.
Debatte um das Kulturgut Buch
In der SPIEGEL-Kolumne macht sich Kolumnistin Sybille Berg über die Verlagsbranche lustig: S.P.O.N. – Fragen Sie Frau Sibylle: Die Zukunft ist da, die Buchbranche woanders.
In einem weiteren Beitrag wird Sybille Berg konstruktiver:
S.P.O.N. – Fragen Sie Frau Sibylle: Die Schrotflinte ist die falsche Antwort
Sie rät den Verlegern, zu weniger Hektik bei Veröffentlichungen und mahnt: „Und merkt euch eins: Die Politik wird die Buchbranche nicht retten.“
In seiner Kolummne „Beckmann kommentiert“ krtisiert der langjährige Chefkolummnist Gerhard Beckmann von BuchMarkt die SPIEGAutorin: „Mit ihrem Buchbranchen-Kommentar auf Spiegel-Online ist Sibylle Berg im Abseits.“
Er warnt auch vor Wolkenkuckucksheimen, denn die Kapitalmacht von Amazon ist eine Dimension, die erst einmal begriffen werden muss:
„Es wäre wirklich sehr zu wünschen, dass möglichst viele unserer Autorinnen und Autoren sich an der Diskussion um die Zukunft des Buches beteiligen – Schriftsteller, die jedoch meinen, man könne die revolutionäre Grundidee und die technologischen Durchbrüche eines IT-Konzerns wie Amazon einfach plagiieren, die Arbeit von genialen, getriebenen Ausnahme-Unternehmern wie Jeff Bezos oder Steve Jobs (bei Apple) durch konsensual operierende Branchenkomitees verrichten lassen, deutsche Riesenkapitalgeber finden, die – wie die Wall Street – in Erwartung versprochener hoher Gewinne jahrzehntelang auf Renditen verzichten und in Deutschland mit skrupellos mit Gesetzes-, Regel- und Steuerumgehungen zu reüssieren wie Amazon, Faceboook etc: Solche Schriftsteller täten gut daran, sich aufs Märchenerzählen zu beschränken.“
Beckmann verweist auf grundsätzliche Fragen, denn längst „… gehen amerikanische und britische Schriftsteller in ihrem Einsatz für das gedruckte Buch auf die Barrikaden. Sie sind fest überzeugt, dass die Zukunft des Buches von einer Infrastruktur mit Buchhändlern und Verlagen abhängt, die Amazon zu zerstören sucht. Sie sehen, dass Silikon Valley die besondere Existenzgrundlage der Autoren untergräbt: das Urheberrecht.“
Grundsatzfragen stehen im Raum: „Wem gehört die Zukunft?“
Beckmann verweist auf den jüngst ins Deutsche übersetzten Buchtitel von Jaron Lanier, dem im kommenden Oktober der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wird. „Wem gehört die Zukunft?“ (Hoffmann und Campe) – Jason Lanier gehört inzwischen zu den ernsthaften Mahnern der Entwicklung der Internet-Technologien.
Beckmann: „Diesem kritischen IT-Pionier zufolge könnte das perspektivisch fehlangelegte Internet nicht nur zum Kollaps der Kultur, sondern zum Zusammenbruch der gesamten Wirtschaft führen. Wie mittlerweile viele andere meint auch er, zur Verhinderung solcher Entwicklung bedürfe es dringend politischer Korrekturen.“
Jaron Lanier warnt: „“Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt.“
Die verschlafene EU und die Schnarchnasen in den Verlagen
Beckmann mahnt auch, genauer auf unsere politischen Institutionen zu schauen: „Wie verschlafen aber – auf politisch inkompetente Weise komplett von der Rolle – die EU ist, das hat Georg Schrems in seinem eben erschienenen fulminanten Werk Kämpf um deine Daten (edition a) geschildert, das auch von Amazon handelt. Der junge österreichische Jurist und Aktivist ist zudem ein hervorragender Schriftsteller.“
Georg Schrems ist Datenschutz-Aktivist, und hat bisher mit „“europe-v-facebook“ 22 Anzeigen bei der Datenschutzbehörde in Irland (Europastandort von Facebook) eingebracht. In seinem Buch „Kämpf um deine Daten“ zeigt er verschiedene Wege zur Lösung der Datenschutzproblematik auf. Für Herbst 2014 plant er die Gründung einer Nichtregierungsorganisation „Datenschutzdurchsetzungs-NGO“.
Der Wunsch, einen kritischen Kommentar aus der deutschen Verlagsbranche selbst zu bekommen, erfüllte sich nicht. Ein prominenter Autor und Journalist, der sich hätte äußern können, beschied den Wunsch mit folgenden Worten: „Wir wollen die Schnarchnasen nicht auch noch verärgern!“.
Die unheimliche Macht des Versandriesen Amazon
Grundsätzliche Kritik kommt auch von Michael Schikowski. Er äußerte sich jüngts bei Deutschlandradio Kultur über das Verhängnis Amazon: Die unheimliche Macht des Versandriesen. Der Untertitel bringt die Grundsatzkritik auf den Punkt:
„Wie das Unternehmen eine Schneise in unser Kulturgefüge schlägt“.
Michael Schikowski warnt vor der Erosion der mittelständisch geprägten Zivilgesellschaft, und seine Worte sind angesichts der laufenden Geheimverhandlungen zu den Freihandelsabkommen eine allerletzte, drängende Warnung:
„Die Erosion der mittelständischen Zivilgesellschaft
Worauf setzt aber das Kapital, wenn es auf Google, Facebook, Apple und Amazon setzt? Auf welchen Zusammenbruch wird hier gewettet? Vielleicht hilft ein Vergleich: Nigeria hat Öl. Das Öl in Nigeria liegt in der Erde. Deutschland hat Wissen. Das Wissen in Deutschland liegt in Bibliotheken, in Institutionen, in den Köpfen und im Können einer wenig glamourösen und grundsoliden Mittelschicht.
Die Spekulation des Kapitals hinsichtlich Nigerias ist klar. Statt den Staat Nigeria oder private Institutionen als Zwischenhändler an der Ausbeutung des Rohstoffs zu beteiligen, ist es lohnender, Nigerias Ölquellen direkt anzuzapfen. Also wird der Staat destabilisiert. Eine mittelständische Zivilgesellschaft, die Können und Wissen und ein kleines Vermögen auf sich vereint, wird gar nicht erst zugelassen.
Das ist in Deutschland nicht so einfach. Die Anzeichen einer erodierenden mittelständischen Zivilgesellschaft sind aber überdeutlich. Durch Deutschland verläuft keine Pipeline, die durch eine menschenleere Landschaft führt, sondern ein sich von selbst plausibilisierender Medienwechsel. Am Ende der nigerianischen Pipeline sitzt der Konzern, wie er hierzulande an der Schnittstelle des Medienwechsels sitzt. Die Einzigen, die ihn dabei noch behindern, sind die mittelständischen Vermittlungsinstanzen, Bibliothekare, Lehrer, Journalisten, Buchhändler, umständliche kleinbürgerliche Sachwalter, aber Sachwalter der entscheidenden Ressource dieser Republik.“
Publizist und Verlagsmanager Michael Schikowski ist auch einer der weiterdenkt, und fest an die Zukunft des Buches glaubt. Sein Buch: „Warum Bücher? – Buchkultur in Zeiten der Digitalkultur“ ist allen Freunden der Buchkultur direkt ans Herz zu legen!
Literatur-Empfehlungen:
Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft?
Übersetzung:
Heike Schlatterer, Dagmar Mallett
Verlag Hoffmann & Campe, 2014
480 S. – 24,99 €
ISBN: 978-3-455-50318-0
Max Schrems, „Kämpf um deine Daten“
edition a Wien 2014, 192 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-99001-086-0
Michael Schikowski: Warum Bücher?
Buchkultur in Zeiten der Digitalkultur
Bramann Verlag, Frankfurt 2013
104 Seiten Klappenbroschur
ISBN 978-3-934054-59-2
Weitere Informationen:
Lesetipp: Wie Amazon ganze Innenstädte in Ausstellungsgeländer verwandeln wird:
Bummeln, shoppen, feuern! – 20. 06. 2014 – Pankower Allgemeine Zeitung