/// Kommentar /// Fast drei Monate nach der Bundestagswahl hat die große Koalition ihren Koalitionsvertrag unterzeichnet, heute war Kanzlerinnenwahl. Lange Verhandlungen liegen hinter den Vorsitzenden von CDU, CSU und SPD, und ihren Verhandlungsdelegationen. Ausgiebig wurde die Lage ihrer Parteien zueinander und zum jeweiligen Wahlvolk sondiert, verhandelt und ausgehandelt.
Gabriels Coup
Siegmar Gabriel hat mit dem Mitgliedervotum der SPD einen Coup gelandet, der Dank einer großen Zustimmung geglückt ist. Gleichwohl darf die SPD ob der realen Zahlen nicht völlig in Euphorie ausbrechen: von 474.820 wahlberechtigten Parteimitgliedern haben sich 256.643 mit Ihrem Votum zur großen Koalition bekannt. Das sind genau gerechnet 54,05 %.
Viele ungültige Stimmen und eine vierstellige Zahl von nicht stimmberechtigten Neumitgliedern schlagen dabei noch unbekannt zu Buche.
Das Abstimmungsergebnis von über 76 % der abgegebenen Stimmen war dennoch eindrucksvoll genug, und hat der SPD emotional und politisch Auftrieb gegeben.
Koalitionsvertrag justiert Koalitionäre
Der Koalitionsvertrag ist schon umfänglich kritisiert worden, die Süddeutsche Zeitung nannte ihn ein Manifest des Schwindels. Doch der Koalitionsvertrag drückt nur die vorläufige parteipolitische Sicht der Koalitionäre in einer intensiven Verhandlungsphase aus, in der der Blick mehr auf die Augenhöhe des Gegenübers gerichtet war – denn auf das Land.
Immerhin: nach dem Mitgliedervotum der SPD und der Zustimmung eignete sich der Koalitionsvertrag, um ein paar Tage gute Stimmung zwischen den Koalitionären zu zelebrieren, Arbeitsatmosphäre aufzubauen.
Doch schon wenige Tage nach dessen Vorlage war erkennbar: der Vertrag ist an vielen Stellen Wunschdenken, der Abgang von CSU-Minister Ramsauer war eine logische Folge seines trotz Fachzuständigkeit bis dato fehlenden Maut-Konzeptes. Lücken bei wichtigen Politikfeldern, die unausgeglichene „Generationen-Bilanz“ in Rentenfragen, und zuwachsende höhere Abgaben und Steuern lassen ahnen: der Koalitionsvertrag war strategisch unfertig. Die neue Regierung muss nachjustieren, die Realitätstauglichkeit der Vereinbarungen erst beweisen.
Regierung und die Lage zur Welt
Die neu formierte Regierungsmannschaft lässt insgesamt einen großen Kompetenzzuwachs erkennen. Die durchaus sympathische Einführung der Regierungsmannschaft, Minister, Staatssekretäre, Kulturstaatsministerin lassen nicht nur fachliche, und politische Rücksicht, sondern auch so etwas wie konzeptionelle Ambition erkennen.
Die Nominierung von Ursula von der Leyen war ein kluger Zug, der der Bundeswehr nicht nur emotional gut tun kann. Vor allem die Reform des Beschaffungswesens und die Kostensicherheit bei geplanten Vorhaben müssen gegen die auf den Fluren der Beschaffungsbehörden agierenden Lobbyvertreter durchgesetzt werden.
Die Zuständigkeiten für Wirtschaft und Energiewende unter Siegmar Gabriel zu bündeln, ist längst überfällig, weil im Land längst auch das Industriepotential wegen zu hoher Stromkosten auf dem Spiel steht.
Auch die Bündelung von Bauen und Umwelt mit Barbara Hendricks macht Sinn, Umweltschutz, Nachhaltigkeit und soziale Mieten stehen besonders in der Wohnungsbaupolitik in einem engen Zusammenhang. Besonders im Wohnungsbau muß man sich dem Irrsinn einer „Baubedarfs-Physik“ stellen, die entgegen wirtschaftlicher Vernunft 100% des Gebäudegrundriß zur „rechnerischen Komfortzone“ macht, während sich Mieter wirtschaftlich und vernünftig nur 30% des Wohnraums im Altbau beheizen wollen (bzw. leisten können).
Koalition für große Aufgaben
Deutschland wird nun zum dritten Mal nach 1966-1969 und 2005-2009 von einem schwarz-roten Bündnis regiert. Heute wird die neue Bundesregierung offiziell ins Amt eingeführt.
„Eine große Koalition ist eine Koalition für große Aufgaben“, sagte Angela Merkel gestern bei der Unterzeichnungszeremonie des Koalitionsvertrages.
„Wir wollen gemeinsam dafür sorgen, dass es den Menschen im Jahr 2017 noch besser geht als heute.“ Zentrale Aufgaben seien für sie solide Staatsfinanzen und soziale Sicherheit. SPD-Chef Sigmar Gabriel äußerte sich ähnlich. „Eine große Koalition muss sich auch Großes vornehmen“, sagte er. Die Verhandlungen mit der Union seien „von großer Fairness und großer Offenheit“ geprägt gewesen.
CSU-Chef Seehofer betonte, Deutschland gehe es gut. „Und wenn man Gutes bewahren will, muss man Landebahnen für die Zukunft bauen und nicht Bunker zur Bewältigung der Vergangenheit.“
Schwarz-Rot habe nun die große Chance, dass die nächsten Jahre gute Jahre für Deutschland würden.
Die Ausgangsbasis scheint zu stimmen: Angela Merkel versprach ihren neuen sozialdemokratischen Regierungspartnern für die nächsten vier Jahre einen fairen Umgang.
Die Mühen schiefer Ebenen
Die neue Regierungsmannschaft ist jetzt in der Verantwortung und muß nun die „Lage der Republik zur Welt“ im Allgemeinen sondieren, und sich der aktuellen und langfristigen Entwicklung in allen Politikfeldern stellen. Im Allgemeinen gibt es dafür rund 100 Tage Schonzeit, in der die neue Politik „öffentlich abgewartet“ wird und allenfalls über mögliche Alternativen spekuliert wird.
Ab April 2014 muß die schwarz-rote Koalition „liefern“ und zeigen, wie sie sich konzeptionell und für alle Bürgerinnen und Bürger planbar aufstellen wird.
Die politischen Herausforderungen sind riesig, weil bei den größten „schiefen Entwicklungen“ bisher keine angemessenen Antworten formuliert sind:
1. Demografie und Sozialsystem
Der demographische Wandel stellt die langfristige Finanzierbarkeit der Sozialversicherungen in Frage. Die bisherige Planung mit faktischer Herabsetzung des Rentenalters und Begründung neuer Rentenansprüche verstärkt die Schieflage. Völlig außer Acht gelassen ist auch der demografisch absehbare Umstand einer rapide wachsenden Nachfrage nach barrierefreien Wohnungen und das Mißverhältnis von Niedrigrenten und steigenden Wohnkosten. Die „schiefe Ebene der Demografie“ wieder in die Waage zu bringen, wird große Mühe für die Politik bereiten.
2. Klimawandel und Energiepolitik
Die bestehenden internationalen Verpflichtungen zum EU-Klimaschutz (für 2020, 2030, 2050) und eine teure und zu einem großen Teil wirkungslose Energiepolitik setzen die Bundesrepublik unter einen extremen Reformdruck.
Steigende Stromkosten gefährden alle energieintensiven Betriebe. Diese stehen prakisch unter Kuratel der EU-Kommission. Und ein bevorstehendes EU-Klageverfahren gegen die Freistellung von der Stromumlage kann ganze Branchen an den Abgrund führen.
In der Klimawandel-Politik und Energiepolitik ist bisher kein strategischer Wurf erkennbar, der das Dilemma steigender Stromkosten versus Deindustrialierung beendet. Mit einer „Verstaatlichung der Elektrizität“ wird man Kosten nicht senken können.
Die Entwicklung lässt auch hier eine langfristige Abwärtstendenzen erkennen – und noch ist völlig offen, ob die „schiefe Ebene der Entwicklung“ ausgeglichen, geschweige denn in eine steigende Entwicklungs- und Wohlstandsperspektive gewandelt werden kann.
3. EU-Krise und Euro-Krise
Die Euro-Krise und die Krise der Finanzmärkte hängen zusammen. Inzwischen entfaltet die Sparpolitik in Europa eine beunruhigende desintegrierende Wirkung. Rechtspopulistische Kräfte entfalten aufs Neue rückwärtsgewandte politische Logiken und beginnen Zeit, Geld und Köpfe und Zukunftschancen zu stehlen.
Die europäische Gemeinschaft ist inzwischen in Gefahr, als Idee und Konzept in Frage gestellt zu werden.
In Europa-Fragen darf Deutschland nicht allein auf Währungs- und Finanzpolitik bauen, sondern es müssen auch politische Neuansätze in der Flüchtlingspolitik, in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und in Sicherheitsfragen erarbeitet werden. Al-Quaida ist nun auf der gegenüberliegenden Küste des Mittelmeers aktiv – und stellt damit die gesamte Stabilität im Mittelmeer-Raum in Frage.
Um die Schieflage der EU-Politik zu beseitigen, bedarf es einer Politik, die mit den Partnern gemeinsame Chancen erarbeitet, und aufzeigt, wohin die Reise gehen soll. Eine Politik der „währungspolitischen Negation“ die Zukunftschancen beschneidet, ist weder außen- noch innenpolitisch haltbar. Eine EU als Wertegemeinschaft benötigt auch eine politische Kultur, die auf Austausch und Kommunikation – statt allein auf Dekrete und Richtlinien setzt.
4. Degeneration des Standorts Deutschland
Seit Jahren gibt es so etwas wie eine schleichende Degeneration des Standorts Deutschland, die durch den Ausverkauf von Schlüsseltechnologien, gepaart mit einer auffälligen Investitionsschwäche herausbildet.
Praktisch sind ganze hochsubventionierte Innovationsfelder im internationalen Wettbewerb unterlegen, die Solarindustrie droht in die Bedeutungslosigkeit zu versinken. In der Bauwirtschaft und im Anlagenbau sind der Weltmarktführer für Betonpumen (PUTZMEISTER) und KHD Humboldt Wedag (Zementanlagen) von chinesischen Investoren übernommen worden. Bei Schienenfahrzeugen wurde praktisch die gesamte Produktionskompetenz binnen 15 Jahren von chinesischen Staatsunternehmen kopiert. Im Automobilbau ist parallel eine ähnliche Entwicklung im Gang – auch der Automobilbau gerät nun in Gefahr.
In IT-Technik, Robotertechniken und anderen Zukunftsfeldern gibt es in Deutschland außer cleveren Startups praktisch keine nachhaltigen Konzernstrukturen, die ein Weltmarktpotential entfalten können.
Die Industrienation gerät immer mehr in die Rolle der Entwicklungswerkstatt, ohne nachhaltigen Profit daraus ziehen zu können. Caritas und Diakonie sind inzwischen die größten Arbeitgeber im Lande.
Die industriepolitische Schieflage wird die größte Herausforderung, weil sie nur mit neuen Ideen und Konzepten und mit neuen Formen internationaler Kooperation zu bewältigen ist. Ob Siegmar Gabriel und Barbara Hendriks hier eine Zukunftskompetenz entfalten, wird in ganz entscheidendem Maß von der Zustimmung und Zusammenarbeit mit der Wirtschaft abhängen.
5. Länderfinanzausgleich, Kommunen, Armut, Nichtvermögen – soziale Lasten
Die Bundesrepublik driftet regional auseinander, es gibt Regionen, die inzwischen völlig von wichtigen Zukunftsentwicklungen abgehängt werden. Eine große Zahl Kommunen ist überschuldet und eigenständig nahezu handlungsunfähig. Das Verfassungsgebot von den gleichwertigen Lebensverhältnissen gehörte bislang zu den zentralen Leitvorstellung des Bundes und der Länder. Es zielte auf die gleichmäßige Entwicklung der Teilräume vor allem bezogen auf Daseinsvorsorge, Einkommen und Erwerbsmöglichkeiten.
Doch seit Inkrafttreten der Kreditrichtlinien BASEL II und III ist nicht mehr allein die Politik, sondern die Kreditvergabe für die Chancen-Entwicklung maßgeblich.
Dies wächst sich nun nach und nach zu ernsten volkswirtschaftlichen Problemen aus. Nordrhein-Westfalen hat 23 Jahre lang den Osten mitfinanziert, und benötigt nun selbst einen „Aufbau-Nordwest“.
Die neoliberale Ära der Privatisierung öffentlicher Leistungen und der Daseinsvorsorge, einschließlich Wohnungsbau, hat auf kommunaler Ebene sehr unterschiedliche Folgen gehabt.
Global gut vernetzte, exportorientierte Kommunen bestehen in der globalisierten Wirtschaft, schlecht vernetzte und binnenorientierte Kommunen bluten praktisch aus.
Für den Länderfinanzausgleich bedeutet es eine völlig neue Herausforderung: die schwachen Regionen benötigen vor allem einen strukturellen „Kreditfinanz-Ausgleich“ – weil sie gar nicht mehr allein imstande sind, Kreditfähigkeit und Wachstum aus eigener Kraft zu organisieren.
Auch auf diesem Feld gilt es, viele „regionale schiefe Ebenen“ ins Lot zu bringen. Eine Herausforderung für die Politik, die Gemeinsamkeiten und gemeinsame Anstrengungen fördern muss. Eine Politik, die aber auch Armut und „Nichtvermögen“ als Hemnisse für die weitere Wohlstandsentwicklung begreifen lernen muss.
Armut und soziale Lasten
Armut, Kinder in Armutshaushalten, Altersarmut und Vermögenslosigkeit sind heute der Mix, der stetig neue soziale Lasten reproduziert. Ein einziger Schulabgänger, der ohne Abschluß bleibt und dauerhaft eine Grundsicherung bezieht kostet alljährlich rund 13.400 €. Nach 15 Jahren sind es rund 200.000 €. Es ist Geld, das zuerst durch Steuereinnahmen erzielt werden muss, das danach staatlich verteilt wird, das bei den Bedürftigen aber nur ein „durchlaufender Posten“ ist, der immerhin Vermietern, Handel und Produzenten ein überschaubares Einkommen sichert. Immerhin: eine Belegungswohnung ist faktisch sogar eine „staatliche Mietbürgschaft“, die binnen 15 Jahren rund 50.000 € für Wohnungsbauinvestoren bringt.
Zwei Folgerungen sind daraus zu ziehen:
– in Zukunft darf kein einziger Schulabgänger ohne einen Abschluß bleiben,
– verfestigte Armut erhöht auf Dauer auch die Staatsquote und die Abgabenlast.
Die fatale schiefe Ebene, die dabei entsteht: Armut, Kinder in Armutshaushalten, Altersarmut und Vermögenslosigkeit führen zu immer neuen staatlichen, einklagbaren Ausgaben-Zwängen – die auf Dauer unlösbare Folgen nach sich ziehen.
Hier hat die Politik eine immerwährende Aufgabe, die angesichts des bereits eingetretenen Fachkräftemangels nicht unterschätzt werden darf: denn Arme, Arbeitslose und Armutsfolgen binden immer weitere Fachkräfte bei Betreuung, Pflege, Fürsorge. Fachkräfte, die aber an wichtiger Stelle bereits heute fehlen.
Es ist ein zumindest ein Zeichen der Vernunft, wenn mit EZB-Direktor Jörg Asmussen nun ein Staatssekretär mit volkswirtschaftlichen Sachverstand ins Ministerium für Arbeit & Soziales einzieht, der sich auch mit den volkswirtschaftlichen Mühen der Armutsbekämpfung befassen kann.
Kanzlerinnenwahl und die ersten 100 Tage
Die Kanzlerin Merkel wurde ins Amt gewählt. 462 Ja-Stimmen bei 621 gültigen Stimmen – aus dem schwarz-roten Lager mit 504 Sitzen stimmten mindestens 32 nicht für die Kanzlerin. Es ist eine „Opposition“ in der Koalition erkennbar, die allzuviel Selbstgerechtigkeit und Selbstgewißheiten in Frage stellen wird.
Wo die künftigen Linien der Kritik innerhalb der Großen Koalition verlaufen können, kann man an den Aussagen des Dortmunder Bundestagsabgeordneten Marco Bülow ablesen, der ausführlich erklärt hat, warum er gegen eine große Koalition ist. Als Vertreter einer NRW-Krisenregion hat er durchaus mit seiner Lagebeschreibung Gewicht.
Die Kanzlerin muß nun die ersten 100 Tage nutzen – und ihre Regierung zum Denken, Planen und Handeln bringen. Ein Verdienst muß Angela Merkel zugute gehalten werden: sie hat mit dem klandestinen Macchiavellismus der Kohl-Ära und mit ideologischen Debatten aufgeräumt.
Die Opposition aus Linkspartei und Bündnis 90/Grüne hat dabei vermutlich noch gar nicht richtig begriffen, wie sie ganz plötzlich am „Katzentisch“ von Zukunftsdebatten landen kann.
Ein Land, dessen Zukunft immer mehr vom „Vordenken und Erfinden“ abhängt, muß sich vor allem darüber gewahr werden: hilfreiche und rettende Ideen lassen sich nur im Dialog frühzeitig und rechtzeitig entfalten – bevor eine unmittelbare unabweisbare Handlungsnot eintritt.
Wer frühzeitig agiert, kann „mehr Demokratie und weniger Staatsquote wagen“ – und so „mehr Netto vom Brutto“ als Ziel verfolgen.
Die Fähigkeit der Kanzlerin, in der Regierung und im Lande Dialogprozesse zu organisieren und zuzulassen, wird mit darüber entscheiden, ob die große Koalition die vorhersehbaren Mühen der schiefen Ebenen bis 2017 überhaupt bewältigen kann.
Die wichtigste Herausforderung aber wird darin bestehen, so etwas wie eine „europäische Governance“ und Innovationspolitik zu formulieren, die dem Streben der USA nach „absoluter digitaler Hegemonie“, und dem „steueroasengestützten Freihandel der Konzerne“ Grenzen setzt. Daneben muss gegenüber asiatischer Innovationskraft und Marktmacht eine eigenständige wirtschaftliche Perspektive für alle Europäer gesichert werden.
– Michael Springer –