Donnerstag, 10. Oktober 2024
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„Wohin steuern wir die Erde?“

Dr. Gerd Müller:
„Wohin steuern wir die Erde?“

Bundesminister Dr. Gerd Müller (CSU)

Im September 2015 werden die Staats- und Regierungschefs auf einem Gipfel der Vereinten Nationen die Post 2015-Agenda für nachhaltige Entwicklung beschließen. Dieser wird konkrete Ziele für das gesamte Themenspektrum der nachhaltigen Entwicklung festlegen und der internationalen Zusammenarbeit in vielen wichtigen Bereichen die Richtung bis zum Jahr 2030 vorgeben.

Bundesminister Dr. Gerd Müller (CSU)
Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller (CSU) – Foto: Bundesregierung Kugler

Auch in Deutschland werden wichtige Strategien und Leitlinien entwickelt und vorbereitet. Auf der gestrigen Konferenz des Bundesumweltministeriums (BMUB) „Wohin steuern wir die Erde? – Neue Ziele für eine nachhaltigere Entwicklung weltweit“ im Umspannwerk Kreuzberg, Berlin kam auch Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller zu Wort.

Seine Rede ist eine ernste Mahnung, und ein Aufruf zum Umsteuern – denn unser bisheriges Entwicklungsmodell ist kein Exportschlager mehr:

„Mei­ne Da­men und Her­ren,

es ist die Zeit der gro­ßen Be­schleu­ni­gung. Al­les wächst ra­sant: Welt­be­völ­ke­rung und Le­bens­er­war­tung, Stau­däm­me und Städ­te, Koh­len­di­oxid-Emis­sio­nen und Wohl­stand. Ge­trei­de­pro­duk­ti­on und Fett­lei­big­keit, der öko­lo­gi­sche Fuß­ab­druck und die Ki­lo­watt­zah­len der Er­neu­er­ba­ren. Wis­sen­schaft­ler über­le­gen ernst­haft, un­ser Erd­zeit­al­ter um­zu­be­nen­nen, ganz of­fi­zi­ell: von Ho­lo­zän in „An­thro­po­zän“, das Men­schen­zeit­al­ter.

So sehr ha­ben wir die Er­de schon ver­än­dert: Mit Mo­no­kul­tu­ren und Müll­kip­pen, Palm­öl-Plan­ta­gen und Berg­bau­ge­bie­ten, Stra­ßen, Stau­se­en und vie­lem mehr. Und bei al­len po­si­ti­ven Ent­wick­lun­gen, ge­ra­de in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten – wir se­hen: Die Le­bens­grund­la­gen von mehr und mehr Men­schen wer­den zer­stört; so­zia­le Chan­cen und Res­sour­cen sind im­mer un­ge­rech­ter ver­teilt, Ent­wick­lungs­er­fol­ge ge­hen wie­der ver­lo­ren.

Wenn wir nicht um­steu­ern, dann wer­den wir ver­mut­lich noch mehr Kri­sen se­hen als heu­te: Noch mehr Flücht­lin­ge, noch mehr ge­walt­tä­ti­ge Kon­flik­te, noch mehr zer­bre­chen­de Staa­ten. Die Mensch­heit ist an ei­nem Schei­de­weg. Bis­her steu­ern wir die Er­de ja nicht wirk­lich. Die Mensch­heit als Gan­zes lebt schon mit sie­ben Mil­li­ar­den auf Pump. Und Jahr für Jahr kom­men wei­te­re 80 Mil­lio­nen hin­zu. Noch im­mer muss ei­ne Mil­li­ar­de erst ein­mal ab­so­lu­te Ar­mut über­win­den kön­nen. Zwei Mil­li­ar­den le­ben heu­te welt­weit das Wohl­stands-Le­ben der Mit­tel­schicht. Und vie­le an­de­re stre­ben da­nach.

Wo­her sol­len die Res­sour­cen kom­men für ein wür­di­ges Le­ben für al­le – ge­schwei­ge denn für Wohl­stand für al­le? Wie kann Ge­rech­tig­keit ent­ste­hen, wie kann ver­hin­dert wer­den, dass die ei­nen auf Kos­ten der an­de­ren le­ben? Die ei­nen flie­gen mal eben nach Pa­ris, New York oder Sin­ga­pur und ge­hen shop­pen. Die an­de­ren pro­du­zie­ren für Hun­ger­löh­ne und lei­den un­ter dem Kli­ma­wan­del, den sie nicht ver­ur­sacht ha­ben.

Wir müs­sen ak­tiv um­steu­ern – Re­gie­run­gen, die Pri­vat­wirt­schaft, je­de und je­der Ein­zel­ne von uns. Un­ser bis­he­ri­ges Wachs­tums­mo­dell ist kein Ex­port­pro­dukt mehr. Ent­wick­lung für acht, neun oder zehn Mil­li­ar­den in den Gren­zen un­se­res Pla­ne­ten, in Ach­tung vor der Wür­de des Men­schen. Das ist un­se­re Ge­ne­ra­tio­nen­auf­ga­be. Das ist un­se­re Ver­ant­wor­tung im An­thro­po­zän.“

Mit dem Wort vom „Anthropozän“ greift Müller einen m Jahr 2000 vom niederländischen Chemiker und Atmosphärenforscher Paul Crutzen gemeinsam mit Eugene F. Stoermer geprägten Begriff auf, der dem gewachsenen menschlichen und zivilisatorischen Einfluß auf den Planeten Erde klimatisch und geowissenschaftlich eine Qualität als neues Erdzeitalter zumisst. Dabei wird die Besorgnis formuliert, dass alle vom Menschen bewirkten Veränderungen bleibende Folgen haben werden, ob Klimawandel, Übersäuerung, Bodenverluste und Artensterben.

Müller weiter:

„Die neu­en, nach­hal­ti­gen Ent­wick­lungs­zie­le kön­nen den Pa­ra­dig­men­wech­sel brin­gen. Sie wer­den nicht nur die Ent­wick­lungs­agen­da, son­dern al­le Po­li­tik­be­rei­che der nächs­ten Jahr­zehn­te prä­gen. Noch nie ha­ben die Re­gie­run­gen der Welt so in­ten­siv über den Zu­sam­men­hang von Ent­wick­lung und Nach­hal­tig­keit ge­spro­chen. Und über al­les, was da­zu­ge­hört: Rechts­staat­lich­keit, gu­te Re­gie­rungs­füh­rung, Kampf ge­gen Hun­ger, Ar­mut, Un­gleich­heit. Noch nie hat sich die Welt­ge­mein­schaft so ehr­gei­zi­ge Zie­le ge­setzt. Und noch nie uni­ver­sel­le Zie­le, die für al­le gel­ten.

Es geht um al­les in die­ser Zu­kunfts­agen­da: öko­lo­gi­sche Leit­plan­ken, Selbst­be­stim­mung, Rech­te, Frie­den, Re­gie­rungs­füh­rung. Weil al­les mit al­lem zu­sam­men­hängt. Um­welt­zer­stö­rung und Ge­walt et­wa. Bei­spiel Ko­lum­bi­en/Ama­zo­nas­ge­biet: Noch im­mer gibt es dort Kon­flik­te – sie trei­ben Men­schen in die Wäl­der, in den Dro­gen­an­bau, in die Ab­hol­zung. Wo Men­schen lei­den, lei­det meist auch die Um­welt. Dau­er­haf­te Ent­wick­lung gibt es nur mit dau­er­haf­tem Frie­den. Und wo die Um­welt lei­det, fin­den ge­ra­de ar­me Men­schen nicht ge­nü­gend Le­bens­grund­la­gen, drif­ten ab in Ge­walt oder Hoff­nungs­lo­sig­keit. Ein Teu­fels­kreis.“

„Je­des Land soll­te fra­gen: Wel­chen Bei­trag kön­nen wir leis­ten, um die nach­hal­ti­gen Ent­wick­lungs­zie­le zu er­rei­chen, na­tio­nal und für die Welt­ge­mein­schaft? Das brau­chen wir: Ent­wick­lungs­po­li­tik für den gan­zen Pla­ne­ten – denn für das Neue, das vor uns liegt, sind wir al­le Ent­wick­lungs­län­der. Ei­ne neue Part­ner­schaft zwi­schen In­dus­trie­län­dern, Schwel­len- und Ent­wick­lungs­län­dern. Und zwi­schen al­len Be­rei­chen un­se­rer Ge­sell­schaft: Wirt­schaft, Zi­vil­ge­sell­schaft, Po­li­tik, Wis­sen­schaft.

Ehr­gei­zi­ge Ent­wick­lungs­zie­le sind das ei­ne. Die Um­set­zung ist das an­de­re. Dar­um müs­sen sie kon­kret und mess­bar sein. Und wir brau­chen ein gu­tes Mo­ni­to­ring: Da­mit wir wis­sen, wo wir ste­hen, und ob je­der die Bei­trä­ge leis­tet, die nö­tig sind. Des­halb macht sich Deutsch­land für ei­nen star­ken Mo­ni­to­ring-und-Re­view-Me­cha­nis­mus bei den UN-Ver­hand­lun­gen stark. 2015 muss das Jahr der Lö­sun­gen sein! Wer muss was tun? Wie wol­len wir es er­rei­chen?“

Zukunftscharta EINEWELT unsere Verantwortung
Zukunftscharta EINEWELT unsere Verantwortung – Gemeinsames Abschlussfoto 24.11.2014 mit Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und Bundesminister Dr. Gerd Müller mit Jugendlichen auf der Bühne
Quelle: Michael Gottschalk/photothek.net

Minister Müller nannte ein paar Schlag­wor­te:

„Glo­ba­li­sie­rung ge­recht ge­stal­ten – öko­lo­gisch und so­zi­al fair! Wir kön­nen mit Ent­wick­lungs­gel­dern nie an­nä­hernd das bei­tra­gen, was ei­ne fai­re Welt­wirt­schafts­ord­nung er­rei­chen kann. In Han­dels­ab­kom­men (wie TTIP) für nach­hal­ti­ge und ent­wick­lungs­freund­li­che Re­geln ein­tre­ten.

Ent­wick­lungs­blo­cka­den lö­sen: Durch Steu­er­hin­ter­zie­hung, Geld­wä­sche und il­le­ga­le Fi­nanz­strö­me et­wa ent­geht den Ent­wick­lungs­län­dern mehr Geld, als an of­fi­zi­el­ler Ent­wick­lungs­hil­fe hin­ein­kommt. Steu­er­schlupf­lö­cher – Sub­ven­tio­nen – Stan­dards – auch un­se­re hei­mi­sche Po­li­tik muss auf den Prüf­stand.

Roh­stoff­reich­tum zu ei­nem Ge­winn ma­chen: Vie­le Län­der sind zu reich, um arm zu sein! Aber auch un­se­re Län­der tra­gen Ver­ant­wor­tung: Wir müs­sen fai­re Prei­se zah­len und wis­sen wol­len, wie et­was pro­du­ziert oder ab­ge­baut wird. Fai­re und um­welt­freund­li­che Ar­beits­be­din­gun­gen: Wir müs­sen die glo­ba­le so­zia­le Fra­ge der Ge­gen­wart an­ge­hen, den Men­schen und der Um­welt zu ih­rem Recht ver­hel­fen. Des­halb ge­hen wir mit dem Tex­til­bünd­nis in Deutsch­land vor­an. Wir wol­len so­zia­le, öko­lo­gi­sche Stan­dards in al­len Han­dels­ab­kom­men der EU ver­an­kern und wir wol­len die Men­schen di­rekt in den Län­dern un­ter­stüt­zen.

Lö­sun­gen gibt es noch un­end­lich vie­le. Vie­le un­ter­stüt­zen wir. Wir in­ves­tie­ren welt­weit in kli­ma­freund­li­che Ent­wick­lung. Wir un­ter­stüt­zen Län­der da­bei, von An­fang an die bes­se­re In­fra­struk­tur auf­zu­bau­en. Wir hel­fen, die bes­se­re Welt zum gu­ten Ge­schäfts­mo­dell zu ma­chen und pri­va­tes Ka­pi­tal zu mo­bi­li­sie­ren. Über­mor­gen, am 7. Mai, sind wir Gast­ge­ber ei­ner Kon­fe­renz im Ga­so­me­ter Schö­ne­berg zu Kli­ma­ri­si­ko­ver­si­che­run­gen. Ein wich­ti­ger Bau­stein der deut­schen G7-Prä­si­dent­schaft! Denn wir wol­len zei­gen:

Das Schick­sal der vom Kli­ma­wan­del be­droh­ten Men­schen in Ent­wick­lungs­län­dern ist uns nicht egal! Wir leis­ten ei­nen kon­kre­ten Bei­trag zu ih­rer Ab­si­che­rung. Das ge­lingt am bes­ten, wenn al­le an ei­nem Strang zie­hen: Ge­ber, Ent­wick­lungs­län­der, Pri­vat­sek­tor, Zi­vil­ge­sell­schaft. Nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung für die EI­NE­WELT fängt bei uns in Deutsch­land an. Neh­men wir die Ver­ant­wor­tung an und hel­fen mit, We­ge in ein nach­hal­ti­ge­res Zeit­al­ter zu fin­den. Durch in­no­va­ti­ve Tech­nik und neu­es Den­ken in der Wirt­schaft. Und durch Auf­klä­rung, durch Im­pul­se an und aus der Zi­vil­ge­sell­schaft.

„Wo­hin steu­ern wir die Er­de“? Was ma­chen wir aus un­se­rem Zeit­al­ter, dem Men­schen­zeit­al­ter, dem An­thro­po­zän? Ein Zeit­al­ter, in dem je­der nur an die ei­ge­nen Be­dürf­nis­se denkt, den ei­ge­nen Vor­teil, den ei­ge­nen Kom­fort, das ei­ge­ne Land? Und die Fol­gen für an­de­re igno­riert? Das Leid von Mil­li­ar­den an­de­ren Men­schen? Tie­ren? Die Zer­stö­rung der Schöp­fung? Oder ei­ne hu­ma­ne Welt, ei­ne ge­rech­te­re Welt, ei­ne Welt in Ba­lan­ce, im Ein­klang mit der Um­welt?

Was wir in die­sen Mo­na­ten ent­schei­den oder auch nicht ent­schei­den, wird mit­be­stim­men über Le­ben und Tod von Mil­lio­nen Men­schen. Und wir, die Re­gie­run­gen die­ser Welt, sind ge­for­dert, ver­ant­wort­lich zu han­deln! En­de die­ses Jah­res wer­den wir mehr dar­über wis­sen, ob die Welt­ge­mein­schaft in der La­ge und wil­lens ist, das Ru­der in die Hand zu neh­men. Un­se­re Nach­kom­men wer­den dar­über ur­tei­len, wo­hin wir die­sen Pla­ne­ten ge­steu­ert ha­ben!“

Weitere Informationen:

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung www.bmz.de

Zukunftscharta Eine Welt eine Verantwortung: www.zukunftscharta.de

Zukunftscharta – EINEWELT unsere Verantwortung | 25.11.2014 | Pankower Allgemeine Zeitung

Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller auf dem World Citizens Day 2015 am 18.4.2015 in Washington

https://youtu.be/O5s9QYg9hRU

m/s