Buchbesprechungen gehören zu den schönen Aufgaben. Doch manches Buch setzt viel Arbeit, Denkarbeit voraus, die in der Hektik das Tages kaum auf die erforderliche Muße trifft. Von einem Buch, einer Autorin und einer wichtigen Inspiration ist heute zu berichten. Das Buch erschien schon am 9.Februar bei Suhrkamp. Das Rezensionsexemplar ließ nicht lange auf sich warten.
Soviel vorweg: es ist ein bedeutsames Buch, ein Buch, das nicht nur gelesen, überflogen werden kann, sondern eine „inspirierende und aufklärende Verdauungswirkung“ nach sich zieht.
Der Klappentext machte neugierig:
„Der Mensch ist ein anymal symbolicum, das sich in ein Reich selbstgeschaffener Zeichen einrichtet, und seine Orientierung aus diesen Zeichen empfängt. Er ist aber auch ein homo interpres, der Zeichen liest und deutet, wo er selbst gar keine hinterlassen hat.“
Die Rezension stellte sich als spannende Aufgabe heraus, liefert das Buch doch einen überaus bedeutsamen und lesenswerten Einstieg zur modernen kulturwissenschaftlichen Grundlagenforschung. Zugleich weckte es den homo curiosus, den neugierigen Menschen in mir, der hier ein weiteres Schlüsselthema zum Verständnis unserer Kultur und Zeit entdeckt hat.
Aleida Assmann gilt als eine der bedeutendsten Kulturwissenschaftlerinnen unserer Zeit. In Ihrem Vorwort schreibt sie über das Zustandekommen dieses Buches, das auf Anregung des Suhrkamp Verlags entstand, und zahlreiche ihrer bisher verstreuten Aufsätze und Beiträge versammelt.
Das stückweise Lesen des Buches wurde zu einem ganz eigenen „Aufklärungserlebnis“: Assmann liefert hierin einen Zugang zum Verständnis hochaktueller medien- und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen.
Assmann beschreibt ihr Buch als eine „Studie über Gebrauch, Herstellung und Deutung von Zeichen in wechselnden historischen und kulturellen Kontexten“.
Über die Autorin
Aleida Assmann, geboren am 22. März 1947 in Gadderbaum, heute Bielefeld, ist eine deutsche Anglistin, Ägyptologin und Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie studierte von 1966 bis 1972 Anglistik und Ägyptologie in Heidelberg und Tübingen. 1977 promovierte sie im Fach Anglistik in Heidelberg über Die Legitimität der Fiktion. Die Nebenfachprüfung in Ägyptologie legte sie in Tübingen ab.
Assmann habilitierte 1992 an der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg, 1993 folgte sie dem Ruf auf den Lehrstuhl für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Im Jahr 2001 nahm sie die Max-Kade-Gastprofessur an der Princeton University in New Jersey an. Gastprofessuren führten sie an die Rice University in Houston (2000), die Yale University in New Haven (2002, 2003, 2005) und die Universität Chicago (2007). Im Sommersemester 2005 hatte sie die „Peter-Ustinov-Gastprofessur“ an der Universität Wien inne.
Assmann veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur englischen Literatur und zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Seit den 1990er Jahren ist ihr Forschungsschwerpunkt die Kulturanthropologie, insbesondere die Themen kulturelles Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen.
Moderne Kulturwissenschaft erhält wichtige Impulse
Assmann hatte sich schon in des sechziger Jahren einer neuen historischen Kulturwissenschaft verschrieben, die vor allem durch Michael Foucault inspiriert worden wahr. Dessen Buch „Die Ordnung der Dinge“ (1972 in Deutsch übersetzt) wurde für die damalige Studentin der Anglistik und Ägyptologie zur einer Art Blaupause, um sich kulturwissenschaftlichen und humanwissenschaftlichen Themen mit den von Foucault entwickelten Begriffen und Perspektiven zu nähern.
Für die heutige Kulturwissenschaft und Medienwissenschaft kann Assmanns Werk auch als hilfreicher „Werkzeugkasten“ verstanden werden, der den Deutungsraum der Kulturwissenschaft enorm erweitert hat.
Assmanns Biografie und ihre geistige Nähe zur Denk-Tradition von Abraham Moritz Warburg (genannt Aby Warburg) haben es der Autorin ermöglicht, Gedanken und Perpektiven durch die Zeiten zu folgen, und so den Kulturwandel begreifbar und beschreibbar zu machen.
Die Autorin nahm Michel Foucaults Begriff vom Diskurs (Foucault: L’ordre du discours (1970) auf, und nähert sich den von ihr wahrgenommenen Phänomenen sprachlicher Kommunikation auf dessen wissenschaftlichen Wegen der Diskursanalyse.
Hans Christoph Blumenbergs Streifzug vom Alten Testament bis zum modernen genetischen Code und die Frage nach der „Lesbarkeit der Welt“ hat auch bei Assmann tiefe Wirkung hinterlassen. Auch Umberto Ecos Werk und „Die Suche nach der vollkommenen Sprache“ haben Assmann beeinflusst, bevor sie sich mit Foucaults Fragestellungen verband. Charles S. Peirce Zeichentheorie und dessen Begriff der Semiose, in dem etwas zum Zeichen wird, und der Zeichenprozess werden zum Fokus und Ansatzpunkt von Assmanns Arbeiten.
In ihrer Dissertation wendete sie den neuen kulturwissenschaftlichen Blick auf „Die Legitimation der Fiktion“ an. Assmann geht darin zwei Formen des Lesens nach: „Der Lektüre der Welt und der Lektüre von Büchern!“.
Wie viel weiter Assmanns Blick weist, wird am Begriff der „wilden Semiose“ deutlich, der durch Assman neu geprägt wurde.
Die „wilde Semiose“ im Fokus
Assmann befasst sich u.a mit der „wilden Semiose“, jenem weiten Feld sprachlicher Artikulationsmöglichkeiten, die sie zwischen den „Polen des Pathologischen und des Kreativen“ ansiedelt. Den Begriff prägte Aleida Assmann (1988) und gilt für literarische Texte und auch Gebrauchstexte. Assmann stellte sich vor, daß wir zweierlei mit einem Text tun können:
Wir können den Text lesen, und vom materiellen Signifikanten zum immateriellen Signifikat gelangen, ohne uns lange damit beim Materiellen aufzuhalten.
Es aber auch möglich, den Text „anzustarren“ und mit einem lange verweilenden Blick an der Materialität des Textes, an seiner Form haften zu bleiben, zu stutzen, zögern, innehalten. Das geschieht immer, wenn uns etwas Unerwartetes begegnet.
Der „lange Blick“ führt zum „Neu-Hinsehen“, zur Verfremdung der Wahrnehmung des Texts. Wird ein Wort oft genug selbst gesprochen, so erscheint es dem Sprecher allmählich als fremd und ohne Sinn: „Die Materialität wird zur Resistenz und blockt die Semantisierung der Zeichen ab.“ (Assmann 1988: S. 238)
Wann fällt uns Materialität auf? Wann verweilen wir bei ihr? Assmanns These: Immer dann, wenn Zeichen „aus dem Ordnungsgefüge konventioneller Beziehungen entlassen“ sind, wenn sie „neue, unerwartete Beziehungen eingehen“ (Assmann 1988: 238).
Jeder Ausbruch aus der Konventionalität der Zeichen kann zu wilder Semiose führen. Neu-Hinsehen erreicht man nach Assmann z.B. durch das ungewohnte Spiel mit den Mustern und durch ungewohnte Typ-Token Beziehungen (= Verhältnis der Zahl verschiedener Wörter [Types] zur Gesamtzahl der Wörter [Tokens]).
Auf der Ebene von Sprach- und Kulturwissenschaft ist Assmann im theoretischen Teil nur für Insider und Wissenschaftler lesbar, die das Vorwissen von Foucault, Peirce und Eco teilen. Doch es lohnt, tiefer einzusteigen, denn Assmann liefert dem in der komplexen Medienwelt scheinbar orientierungslosen Menschen wichtige Erkenntnis- und Ordnungsmuster, die Selbstreflektion und Selbstaufklärung stärken können.
Exkurs: Wie funktioniert „wilde Semiose“ im Alltagsgebrauch?
Das Beispiel eines „Medikamenten-Beipackzettels“ provoziert den „lange verweilenden Blick“. Sicher ist‚ daß „der lange Blick“ sehr schnell zum Lesen führt. In unserere von Medien geprägten Welt hat dieser „Zettel“ zum Lesen „verführt“.
Die kleine Schrift hat bewußt den Kanon der in unserer Medienwelt, Medikamentenwerbung und Verpackung geprägten Leseerwartung „guter Lesbarkeit“ gebrochen, und den Blick auf eben diesen Text gelenkt.
Doch wie wird der Text empfunden? Erregt er Vertrauen in die Medikamentenwirkung, oder weckt der Text zu den Nebenwirkungen Ängste, Urängste – oder nur Fiktionen? Oder sollten wir erst eine Beruhigungsschnaps trinken, bevor wir den Beipackzettel lesen?
Ein Text, verschiedene „Zeichenprozesse“ – willkommen im Reich der „wilden Semiose“!
Assmanns ordnender und helfender Blick
Assmann baut auf kultur- und sprachwissenschaftlichen Begriffen und Methoden auf, doch schreibt sie klar und verständlich.
In ihren Beispielen sorgt Assmann sogar für echtes Lesevergnügen, wenn sie von „Adam als erster Leser der Welt“ oder den „Leser der Großstadt“ schreibt.
Auch Ausflüge in die Ägyptologie werden plötzlich verständlich, wenn sie von der „Rückkehr der Hieroglyphen“ schreibt, und „Wie Buchstaben heute wieder zu Bildern werden“.
Assman lehrt uns einen neuen Blick, um uns im Dickicht der Zeichen wiederzufinden und zurecht zu finden. Ihre interdisziplinäre Weltsicht zeigt uns einen neuen kulturwissenschaftlichen Kosmos; wie wir unsere Kunst der Deutung verfeinern und vergrößern können.
Ihre wichtigsten Aufsätze zu Fragen der Hermeneutik, der Semiotik und des Lesens sind im Buch zu finden. Einige, wie etwa ihre Untersuchung zum Verhältnis von Hodegetik, Hermeneutik und Dekonstruktion haben bereits einen Klassikerstatus erreicht.
Zugleich öffnet Assman uns den Blick für die Verfaßtheit des modernen Menschen und seines Bewußtseins in der Medienwelt, in der Welt der Zeichen. Das Dickicht der Zeichen wird nun etwas durchschaubarer, und wir erkennen uns selbst.
Literaturhinweis:
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2079,
Broschur, 360 Seiten, 2015, 18,00 €
ISBN: 978-3-518-29679-0