/// Kommentar /// – In Thüringen schwärt ein Streit, der ein Zustandekommen einer rot-rot-grünen Koalition verhindert. Es ist ein Begriff, der im Wege steht, ein politischer Begriff – auch ein „Quälbegriff“, weil er eine „quälende Rückschau und Selbstschau herausfordert. Die Verhandlungsführer von Bündnis 90/Grüne haben diesen Begriff in die Vorgespräche zu Koalitionsverhandlungen eingeführt.
Prompt tobt in der Partei DIE LINKE ein großer Streit – der noch immer zeigt, wie sehr die Köpfe der Linkspartei im Jahr 25 nach der Deutschen Wiedervereinigung mit der Vergangenheit hadern.
Thüringen vor Rot-Rot-Grün?
Nach der Landtagswahl in Thüringen ist die Linke fest entschlossen, selbst mit SPD und Grünen ein Bündnis zu schmieden und ihren Spitzenmann Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten zu machen. Eine derartige Konstellation wäre ein Novum in der Parteiengeschichte in Deutschland.
In dem Koalitionspapier wurde der Begriff „Unrechtsstaat DDR“ aufgeschrieben, die Thüringer Genossen der Linkspartei wollten das Papier schon fast akzeptieren. Doch Gregor Gysi machte einen Strich durch das Konzept.
Linksfraktionschef Gregor Gysi sieht die DDR nicht als Unrechtsstaat. Er kritisierte als Vorsitzender der Linke-Abgeordneten im Bundestag am 30.9.2014 die entsprechende Formulierung in dem Papier von SPD, Grünen und Linken aus den Sondierungsgesprächen über eine Koalition in Thüringen. Gysi im O-Ton: „Es stimmt eben nicht, dass, wenn man kein Rechtsstaat ist, dass man dann automatisch ein Unrechtsstaat ist“, sagte Gysi bei einer Pressekonferenz in Berlin.
Damit entbrannte eine scharfe Debatte: „Gysi schlägt allen Opfern der SED-Verbrechen kalt ins Gesicht“, sagte etwa der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer und legte nach. „Wir werden nicht zulassen, dass die Linkspartei die Geschichte umschreibt und die SED-Machthaber von Schießbefehl und Bespitzelung reinwäscht.“
Debatte um einen politischen Begriff
In den politischen Kommentaren werden nun wieder neue Worte geprägt, und immer wieder rückverwiesen: „Zum Thema DDR und Unrechtsstaat ist eigentlich schon alles gesagt worden, aber – unter demokratietheoretischen Aspekten nicht unproblematisch – noch nicht von allen;“ kommentierte Timo Frasch am 3.10.2014 in der FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG.
Dabei sind die Schlachten um den Begriff „Unrechtsstaat“ eigentlich schon geschlagen. Die Debatte in Wikipedia ist längst zu einem klaren Text kristalliert:
„Unrechtsstaat ist eine abwertend gebrauchte Bezeichnung für einen Staat, der kein Rechtsstaat ist. Es handelt sich hierbei nicht um einen juristischen, sondern um einen politischen Begriff.“
Wie war das nun mit der DDR als Unrechtsstaat?
Zum Jubiläum der deutschen Einheit muß es erlaubt sein, auf alle Wendungen der Geschichte hinzuweisen. In der Tat hatte es in der DDR einen allerletzten Versuch gegeben, so etwas wie ein Rechtsstaat zu werden:
Per „Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“ (Verfassungsgrundsätze) Vom 17. Juni 1990 (GBl. I S. 299) Artikel 1, Absatz 1 heißt es: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein freiheitlicher, demokratischer, föderativer, sozialer und ökologisch orientierter Rechtsstaat.“
Die deutsche Wiedervereinigung kam nach diesem Anlauf zur Verfassungsänderung letztlich dazwischen!
Davor gab es drei Verfassungen in der DDR, und die hatten es wirklich in sich, weil sie in ihrem grundsätzlichen Bekenntnis zu Bürgerrechten und demokratischer Ordnung nie die eigentliche Verfassungswirklichkeit widerspiegelten.
Die Verfassungen von 1949, 1968 und 1974, die Verwaltungsreform von 1952 und die Wende ab 1989 spiegelten einen politischen Wandel der DDR, der zwischen Ansätzen von Liberalität und neuerlicher Restriktion, innerdeutscher Annäherung und Separatismus schwankten – und spätestens ab 1968 den SED-Parteienstaat in absolute Macht setzen.
Politische Aushebelung der DDR Verfassung durch Gesetzgebung
Die Verfassung von 1949 wurde als höherrangiges Recht der DDR im Zeitverlauf fortlaufend durch Gesetze geändert und vor allem durch verfassungsdurchbrechende Gesetze umgestaltet.
Da alle Gesetze der DDR zuvor in der Nationalen Front, dem zwangsweisen Zusammenschluss aller Parteien der DDR verabredet wurden und die Volkskammer jedem Gesetz einstimmig (mit sehr, sehr wenigen Ausnahmen) zustimmte, gab es keine für eine parlamentarische Demokratie übliche Opposition.
Obendrein: die aus der der Zwangsvereinigung von KPD und SPD 1946 hervorgegangene politische Einheitspartei der SED konnte den Staat DDR nach Belieben bis 1990 allein regieren. Die SED sorgte für eine umfassenden Durchdringung der Organe aller drei Gewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) mit SED-Nomenklaturkadern. Letztlich war das politische System der DDR eine Ein-Parteien-Herrschaft, das durch gezielte Personalpolitik und Verstöße gegen den Gleicbheitsgrundsatz Karrieren und Biografien förderte – oder durch politische Eingriffe und Staatssicherheit zerstörte.
Der Weg in einen Beruf war eben nicht frei, sondern wurde nach politischen Kriterien freigegeben – oder versperrt.
Einheitspartei als allzuständige Führung
Die SED hatte 1948 zunächst 1,2 Millionen Mitglieder – zu wenig, um einen modernen Staat zu regieren. Ab 1948 begann die Umwandlung der SED zur „Partei neuen Typus“ im Sinne des Leninismus. Der Aufstieg der SED wurde am Mitgliederzuwachs sichtbar: im Jahre 1984 hatte die Partei über 2,2 Millionen Mitglieder bzw. Kandidaten – das war jeder fünfte erwachsene Bürger der DDR.
Wir erinnern uns: mit dem Marxismus-Leninismus als der offiziellen Weltanschauung wurden sämtliche wesentlichen ideologischen und organisatorischen Zielsetzungen der Partei begründet.
In der sozialistischen Verfassung der DDR von 1968 (i. d. F. von 1974) war die führende Funktion der SED bereits in Art. 1 beschrieben: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“
Das Staatsoberhaupt (von 1949 bis 1960 Präsident Wilhelm Pieck, ab 1960 der jeweilige Staatsratsvorsitzende), wurde bis 1989 immer von der SED gestellt. Der Sitz: Schloß Schönhausen.
Aus der leninistischen Weltanschauung leitete sich ein umfassender Anspruch ab, den wir heute auch als mentale Haltung verstehen lernen, die alle privaten, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Belangen einem „sozialistischen Allzuständigkeitsdenken“ unterordnete. Hier entstand auch der psychologische Kern für alle Denkweisen „allumfassender Planung“ und der idealistische Impetus, um die Gewaltenteilung zu übergehen und zu winden.
Demokratischer Zentralismus als Strukturprinzip
Der Demokratische Zentralismus galt als das Herzstück der sozialistischen Demokratie. Gesellschaft und Staat unterlagen einer zentralen Leitung und Planung, die auf einer breiten demokratischen Willensbildung basieren sollte. In der Umsetzung sah dies aber ganz anders aus. SED, die Massenorganisationen und der Staat waren extrem zentralistisch organisiert. Innerhalb der Staatspartei waren auch die Spielräume untergeordneter Instanzen nur minimal.
Der Begriff „Demokratischer Zentralismus“ geht auf die von Lenin und dem „Komintern“-Sekretär Sinowjew formulierte und auf der 2. Tagung der Komintern im Jahr 1920 verabschiedete zwölfte von 21 „Bedingungen der Zugehörigkeit zur Kommunistischen Internationale“ zurück.
Der demokratische Zentralismus setzte alle Grundprinzipien einer freiheitlichen Demokratie außer Kraft – und stellte sich über Gesetz und Verfassung, vor allem, weil die Prinzipien der Gewaltenteilung und faktisch das Gleichheitprinzip abgelehnt wurden.
Durchgängige Strukturen der SED lenkten den Staat
Die SED-Strukturen wiederholten sich nach den Prinzipien des demokratischen Zentralismus auf Bezirks- und Kreisebene. An der Basis standenGrundorganisationen der SED, z. B. in den Betrieben, den (Hoch-)Schulen oder bei der NVA.
Das Zentralkomittee der SED stand inn der politischen Rangfolge über den Ministern; die Sekretäre und Abteilungsleiter des ZK waren gegenüber den staatlichen Ministern weisungsbefugt. Andererseits gab es zwischen ZK und Regierung (Ministerrat) auch personelle Überschneidungen (z. B. Staatssicherheits-Minister Erich Mielke oder Verteidigungs-Minister Heinz Keßler). Dem ZK bzw. den zwölf ZK-Sekretären unterstanden etwa vierzig Abteilungen und Arbeitsgruppen. Ebenfalls dem ZK unterstellt waren die folgenden Institutionen: die Akademie für Gesellschaftswissenschaften (AfG), das Institut für Marxismus-Leninismus (IML), das Zentralinstitut für Sozialistische Wirtschaftsführung (ZSW), die Parteihochschule Karl Marx (PHS) und die Zentrale Druckerei-, Einkaufs- und Revisionsgesellschaft (Zentrag).
Die SED besaß das größte Verlagshaus der DDR, den „Dietz Verlag Berlin“ und sie gab u. a. die zentrale Tageszeitung „Neues Deutschland“, Regionalzeitungen in den Bezirken, das monatliche Theorieorgan „Einheit“, die halbmonatlich erscheinende Zeitschrift „Neuer Weg“ und parteiintern „Was und wie“ heraus.
Parteienstaat mit durchgängigen Informationssystem
Ein geschlossenes, von den untersten Parteieinheiten bis zum Zentralkomitee reichendes Berichts- und Informationssystem, welches ebenso von oben nach unten etwa die Beschlüsse des ZK bis hinein in die Grundorganisationen vermittelte, sorgte für einen allumfassenden Informationsfluss von unten nach oben zur obersten Parteileitung der SED.
Diese „Parteiinformation“ war ein besonderer Sektor im Apparat des ZK sowie in den jeweiligen Abteilungen „Parteiorgane“ der Bezirks-, Stadt- und Kreisleitungen. Diese Parteiorgane arbeiteten eng mit der Staatssicherheit zusammen. Da die SED neben der ideologischen Kompetenz auch die politische Richtungskompetenz besaß, Gewaltenteilung und Kontrolle ausschaltete, war ihre Macht in der DDR absolut.
Diese Konstruktion sorgte auch für die uneingeschränkte Willkür des Staatssicherheitsdienstes, der nach „Parteiinformationen“ und Spitzelberichten Bürger verhaftet, verhört und nach Belieben länger als 3 Monate eingesperrt wurden, länger als das DDR-Recht es damals erlaubte.
Die DDR ein Unrechtsstaat?
Die DDR war ein Staat, in der die SED sich über alle Ebenen hinweg organisierte und informell und politisch Macht ausübte. Die in der ersten Verfassung formulierten Grundsätze der Gewaltenteilung und rechtsstaatlicher Prinzipien, wurden spätestens mit der Verfassung von 1968 unter Walter Ulbricht ausgesetzt.
Die Einheitspartei setzte sich über alle rechtsstaatlichen Strukturen selbst hinweg, die einstige DDR-Verfassung wandelte sich in eine „Rechtsstaatskulisse“, die wohl vorwiegend noch aufrechterhalten wurde, um dem ideologischen Vergleich mit der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland standzuhalten.
Grenzregime und den Schießbefehl waren des gewalttätige Ergebnis des absoluten, an seine Unfehlbarkeit glaubenden SED-Staates – doch schon ohne das Grenzregime war die DDR kein normaler Staat, sondern eine Parteiendiktatur, die eine Partei über das Recht stellte.
Doch es wäre heute ein Fehler, die Geschichte der DDR heute unter einem einzigen Wort „Unrechtsstaat“ zu begraben. Die nachgeborenene Generation muß sich mit der ganzen Geschichte befassen, auch mit den Details, Abläufen, mit den Geschichten und den Biografien – vor allem mit den gebrochenen Biografien der Opfer – und Todesopfer. Allein das Wort „Unrechtsstaat“ droht sonst eine schleichende Verharmlosung in Gang zu setzen!
Die DDR war ein „Ein-Parteienstaat“ mit einer „Rechtsstaatskulisse“, in der sich Politik und Ideologie über das Recht stellten, und Unrecht gegenüber Menschen ausübten.
Bekenntnis zu Gewaltenteilung, Pluralismus und Gleichheitsprinzip
Es war im Jahr 2002, als die rot-rote Koalition in Berlin beschlossen wurde, und sich der damalige Landesvorsitzende Stefan Liebich (DIE LINKE) mit der gleichen Frage auseinandersetzte, und ein Bekenntnis zum DDR-Unrecht abgab. Die Thüringer Koalitionäre können in dem Papier nachlesen, wie man den Begriff „Unrechtsstaat“ umgehen kann, und doch das Unrecht in der DDR anerkennt – und sich davon distanzieren.
Personen, die ihre ideologischen Alleinvertretungsansprüche absichern wollen, stehen heute einer Koalitionsbildung im Weg.
Wenn es in Thüringen künftig zu einer rot-rot-grünen Koalition soll, die Politik für die Zukunft plant, ist vor allem ein klares Bekenntnis zu Gewaltenteilung, Pluralismus und Gleichheitsprinzip gefordert. Es sind diese Prinzipien, die einen Rechtsstaat erst konstituieren.
Der genaue Rückblick auf die kollektiven Prozesse, die Allzuständigkeitsdenken, Alleinvertretungsansprüche entstehen ließen; der Blick für die Verschiebung der Macht zwischen Bürger und Partei, und das Verstehen der Prozesse informeller Machtausübung ist heute nicht nur für das Verstehen der Vergangenheit bedeutsam.
Auch unsere heutige Verfassungswirklichkeit und unsere zukünftige Rechtsentwicklung müssen im Zusammenhang mit der allumfassenden Digitalisierung genau im Blick behalten werden. Wir können heute aus der Vergangenheit eines „Unrechtsstaates“ für unsere eigene Zukunft lernen!