Sonntag, 08. Dezember 2024
Home > Themen > „Die demografische Uhr tickt unbarmherzig“

„Die demografische Uhr tickt unbarmherzig“

News für Sie gelesen

Deutschland altert, die Abwanderung erreichte Spitzenwerte von 820.000 Menschen, und der krisenbedingte positive Zuwanderungssaldo von rund 400.000 Menschen verdeckt die bestehenden tiefgehenden Strukturprobleme.

Der Demograf Herwig Birg beklagt das totale Versagen der deutschen Politik angesichts der Bevölkerungsentwicklung. Seine Kernaussagen: „Die Parteien betreiben systematische Schönfärberei – aus Feigheit vor dem Wähler.“

Weiter geht er noch in der Bewertung der Demographiestrategie der Bundesregierung: „Diese Demografiestrategie verdient den Namen nicht. Da ist nur von den Auswirkungen die Rede, und wie man sich an sie anpassen soll. Kein Satz über die Ursachen! Die Verfasser gehören zu der ganz kleinen Gruppe von Bundestagsabgeordneten, die sich überhaupt für Demografie interessieren. Aber selbst die weigerten sich, das zentrale Thema der Geburtenrate auch nur zu berühren, geschweige denn Lösungsvorschläge zur Steigerung der Geburtenzahlen vorzuschlagen.“

Birg geht sogar noch weiter: „Auf einem der jährlichen Demografieforen der Bundesregierung sagte mir ein hochrangiger Vertreter der deutschen Wirtschaft hinter vorgehaltener Hand, nachdem er gerade eine regierungsfreundliche Rede über die angeblichen Chancen der demografischen Entwicklung gehalten hatte, es hätte ohnehin keinen Sinn mehr, in Deutschland etwas zu tun. Seine vier Söhne würden alle auswandern. Das ist typisch für das Verhalten vieler politischer Verantwortungsträger. Vermutlich gibt es ein unterschwelliges Einverständnis mit dem demografischen Abwärtstrend, eine Art Sehnsucht nach dem Ende des Weges, der als Sackgasse erkannt wurde.“

Systemfehler: zu geringe Geburtenrate

Birg benennt die zentrale Ursache, warum das deutsche Rentensystem versagt:

„Das umlagefinanzierte deutsche Rentensystem wäre dann und nur dann das sicherste und gerechteste der Welt, wenn erstens die Geburtenrate wie bei seiner Einführung 1957 bei rund zwei Kindern pro Frau läge und wenn zweitens die Frauen nicht wie heute zu einem Viertel bis einem Drittel kinderlos bleiben würden – Tendenz steigend. Soziale Gerechtigkeit und demographische Stabilität sind also zwei Ziele, die nur gemeinsam verwirklicht werden können – oder gar nicht.“

Gefragt nach dem Unwissen über die Zusammemhänge antwortet er:

„Das ist der Politik anzulasten. Es ist gewollt, die Bürger im Irrglauben zu belassen, ihnen keinen reinen Wein einzuschenken. Zur Angst der Politiker vor der Wahrheit kommt die Feigheit vor dem Wähler.“

Drei Konfliktbereiche

Birg benennt drei Hauptkonfliktbereiche
„Zu dem Interessengegensatz zwischen Jungen und Alten, der durch Anhebung des Rentenalters zu entschärfen ist, kommt der noch tiefergreifende Konflikt zwischen Menschen mit und ohne Nachkommen.“

„Der dritte Konflikt ist ein regionaler, der im öffentlichen Bewusstsein noch gar nicht angekommen ist. Wir haben prosperierende Metropolregionen, weil die noch vorhandenen gut ausgebildeten jungen Menschen aus den Entleerungsgebieten dahin ziehen. Und diese verändern die Altersstruktur so, dass in den Metropolen mehr Kinder geboren werden als Menschen sterben. Die Zentren wachsen also sowohl natürlich als auch durch Zuwanderung. Das bringt neue Ungerechtigkeiten hervor und macht es unmöglich das Verfassungsgebot der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu erfüllen.“

Mehr in der Wirtschaftswoche:

Interview: Herwig Birg
„Die demografische Uhr tickt unbarmherzig“ – 5.3.2015 Wiwo.de

Herwig Birg war 1981-2004 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld. Sein aktuelles Buch: Die alternde Republik und das Versagen der Politik. Eine demografische Prognose, LIT 2015.

m/s