Der steigende Zuzug von Flüchtlingen setzt Kommunen und Bundesländer unter Druck. Um den kurzfristigen Unterbringungs-Bedarf zu befriedigen, wurden bislang Containerbauten errichtet, die jedoch auf Dauer zu teuer im Unterhalt sind, und auch nur als vorübergehende Provisiorien taugen. Es wird daher dringend nach nachhaltigen Lösungen und Baukonzepten gesucht, um dem Bedarf gerecht zu werden, und zugleich besser zur Integration beizutragen.
Es lohnt sich, einmal in anderen Bundesländern nachzuschauen, wie man dort mit den Herausforderungen umgeht. Im finanzschwachen Bundesland Schleswig-Holstein hat man sich rechtzeitig mit einem nachhaltigen Konzept befasst, und ein bundesweit vorbildliches „Kieler Modell“ entwickelt. Das Modell wurde im Rahmen einer Studie erarbeitet, die an die „ARGE-SH Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen GmbH“ in Kiel vergeben wurde.
Der Vorteil: das Konzept wird aus den Mitteln der sozialen Wohnraumförderung des Landes Schleswig-Holstein finanziert, und ist damit aus der engen Behörden-Zuständigkeit der reinen Flüchtlingsunterbringung herausgelöst.
Das „Kieler Modell“ eignet sich für alle Formen der Unterbringung von Flüchtlingen: zentrale Erstaufnahme; dezentrale Unterbringung – sowie Probe- und Einzelwohnen.
Vorbild: ERP-Wohnungsbauprogramme aus 1950/51
In der Nachkriegszeit des zweiten Weltkriegs gab es mit den Wiederaufbauprogrammen des „European Recovery Programms“ in den Jahren 1950/51 eine fast explosionsartige Ausweitung des Wohnungsbaus. In Schleswig-Holstein wurden damals ca. 10.000 ERP-Wohnungen in nur zwei Jahren gebaut. Ähnliches geschah in allen Bundesländern, es wurden gleichzeitig hundertausende Wohnungen in Deutschland gebaut.
Das ERP-Programm hatte in der schwierigen Nachkriegszeit die konkrete Aufgabe, die Produktivität im Wohnungsbau und der Wirtschaft insgesamt zu verbessern und gleichzeitig die Baukosten zu senken. Die neuen Wohnungen wurden damals bereitgestellt, um die „Heimatvertriebenen“ zu integrieren und der Wirtschaft Aufträge zuzuführen.
Wir kennen das Programm heute unter dem Begriff „Marshallplan“. Das daraus geschaffene ERP-Sondervermögen war ein wichtiger Teil des „Marshallplans.“ Es bezeichnet ein vom Bund verwaltetes Sondervermögen das 1948 ursprünglich auf der Grundlage des Marshallplans bereitgestellt wurde, um den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft zu fördern.
Das ERP-Programm existiert bis heute. Das Sondervermögen erneuert sich aufgrund der Kreditvergabe und der Zinszuflüsse beständig. Es wird heute neben der Wirtschaftsförderung in Deutschland auch in der Entwicklungshilfe eingesetzt.
Planungshilfe für Berlin?
Der Berliner Senat will in den kommenden zwei Jahren insgesamt 36 Flüchtlingsheime errichten, und hat dazu am 22.April 2015 einen Plan im Berliner Abgeordnetenhaus vorgelegt, der umgesetzt werden soll.
Die neuen Unterkünfte sollen Modulbauten werden, die aus Fertigteilen errichtet werden und jeweils 240 Menschen Platz bieten sollen. Damit sollen ca. 7200 weitere Wohnplätze für Flüchtlinge geschaffen werden. Jedes Jahr sollen weitere 3.600 Plätze dazu kommen.
Die Kosten für das Programm werden auf ca. 140 bis 150 Millionen Euro geschätzt, die entsprechende Summe soll für den kommenden Doppelhaushalt 2016/2017 angemeldet werden.
Inzwischen wird von Architekten an Musterentwürfen gearbeitet und berlinweit werden freie Grundstücke für die 36 neuen Flüchtlingsheime gesucht, die 2016 und 2017 errichtet werden können.
Im Gegensatz zu Wohn-Containern, die nur etwa 10 Jahre genutzt werden können, sollen die Neubauten für 50 Jahre Nutzungsdauer ausgelegt werden. Der einmal ausgewählte Entwurf muss alle Genehmigungsschritte nach dem Baurecht durchlaufen, und soll dann als Musterentwurf einheitlich umgesetzt werden.
Das „Kieler Modell“ könnte sich als eine geeignete Variante auch für Berlin erweisen, weil es im Rahmen der Förderung gemeinschaftlicher Wohnprojekte errichtet werden kann und schnell, kostengünstig, sozial und nachhaltig geplant ist.
Arbeits- und Planungshilfe für Kommunen und Wohnungswirtschaft
Die Zielsetzung „Gutes Wohnen“ mit langfristiger Nutzung erlaubt auch eine über die reine Flüchtlingsunterbringung hinausgehende Nutzung für die Zwecke „sozialer Wohnungsbau“, „Studentenwohnen“, „Familienwohnen“ und „Altenwohnen“.
In der Erstaufnahme wird sehr knapp kalkuliert, um Kosten zu sparen: 6 qm Individualfläche – 2 qm Gemeinschaftsfläche – 2 qm Verwaltung stehen pro Person als Richtwert im Konzept.
Das „Flüchtlingswohnen“ wird als Gruppenwohnen ausgelegt mit gemeinsame Erschließung in der Mitte des Baukörpers und mit allen erforderlichen Gemeinschaftsangeboten im räumlichen Zentrum.
Im Rahmen von Flüchtlingswohnen werden die Individualflächen auf ein Minimum reduziert. Der Flächengewinn wird den gemeinschaftlich genutzten Flächen bei überschaubaren Einheiten zugeschlagen.
Werden die Bauten auf die Zwecke „sozialer Wohnungsbau mit langfristiger Nutzung“ ausgelegt, so können die Richtwerte natürlich auch angepasst und erweitert werden, um Studentenwohnen, Familienwohnen und Altenwohnen in der nachrüstbaren „Plusvariante“ zu ermöglichen.
Baustandard 2016 mit niedrigen Baukosten
Es wird sehr kostengünstig geplant: Einsparungen im Entwurfskonzept werden durch geringe Höhe, Spiegelung und Symmetrie im Grundriß, Kompaktheit und günstiges A/V-Verhältnis und eine zentrale Erschließung in der Mitte erzielt.
Durch übereinander gesetzte Technik für Energie, Küchen und Sanitärräume und gemeinschaftlich genutzte Flächen werden ganz erheblich Kosten gespart.
Dazu kommen eine Konstruktion mit geringer Gebäudetiefe, eine einfache Dachform und Rohbauhöhe bis 2,50m. Ausgelegt als ganz konventioneller Rasterbau, der vor Ort geplant und ausgeschrieben und errichtet wird, kann in einem Flächenland wie Schleswig-Holstein auch durch die regionale Handwerkerschaft kostengünstig gebaut werden.
Eine minimierte Technik, ein reduziertes – bereits für die Nachnutzung und Nachrüstung- ausgelegtes Tragsystem senkt ebenfalls die Baukosten. Auch wird die Anzahl der verschiedenen Fenstergrößen passend zun Rastermaß beschränkt.
Das „Kieler Modell“ berücksichtigt bereits die Verschärfungen der EnEV für den Neubau ab 2016 und ist mit seinen Baukosten von ca. 1.583 €/m² Wohnfläche bis ca. 1.759 €/m² Wohnfläche sehr preiswert.
„Gutes Wohnen“ und transitorische Nutzungen in der „Creative City“ Berlin
Das „Kieler Modell“ ist eine wichtige Grundlage, um auch in Berlin neu über „Wohnen und Integration“ nachzudenken, und zu handeln. Indem man sich von der Perspektive der „Flüchtlingsunterbringung“ löst, und „Wohnen und Integration“ als Bauaufgabe des sozialen Wohnungsbau begreift, wird auch eine nachhaltige Perspektive in die Stadtentwicklung gebracht.
Berlin hat als Metropole im Grunde kein „Flüchtlingsproblem“, sondern eine neue soziale „Beherbergungs- und Stadtentwicklungsfrage“ zu lösen. Wird der Blick auf das Netzwerk globaler „Creative Cities“ geweitet, so kann man auch einen wachsenden besonderen Bedarf erkennen, der als „Globalisierungsfolge“ eintritt:
Noch nie waren soviele Menschen auf der Flucht, wobei der Status des „Flüchtlings“ allein durch Zwang zum Verlassen einer Heimat oder Region definiert ist.
Gleichzeitig werden aber weltweit immer mehr Menschen freiwillig mobil. Sie suchen „transitorische Räume“, in denen mehr als nur ein Dach über dem Kopf gesucht wird. Es wird Raum und Sozialraum gesucht, um sich neu zu „verwurzeln“. Raum und Arbeitsraum zur Arbeitsaufnahme, zur sozialen Vernetzung und zur globalen Arbeitsmigration.
In der Stadtentwicklungspolitik ist längst eine neue soziale „Beherbergungs- und Stadtentwicklungsfrage“ entstanden, die an der steten Zunahme „transitorischer Wohnnutzungen“ erkennbar ist:
Hostels, Studentenheime, Artists in Residence, Boardinghouses, Wohnen und Untervermietung auf Zeit, Ferienwohnen, Wohnen für Stipendiaten, für entsendete Arbeitnehmer und Projektarbeiter – es sind alles „transitorische Nutzungen“, die auf Zeit gewählt werden. Ateliers, Werkstatt- und Prokjekträume und Coworking-Spaces auf Zeit wären zugleich hilfreiche Angebote, um Vernetzung, Integration und wirtschaftliche Integration zu fördern.
Die „Zweckentfremdung von Wohnraum“ durch „Ferienwohnen“ ist schon längst eine Nachfrage nach „transitorischen Nutzungen“, die durch eine Vielzahl von persönlichen, beruflichen und wirtschaftlichen Motiven gespeist wird.
Es würde viel öffentliche Mittel sparen, wenn man dies als besondere „Marktnachfrage“ begreift, und statt „restriktiver Regelungen zum Zweckentfremdungsverbot“ eine „angebotsorientierte Strategie“ zur Befriedigung dieser neuartigen „Wohnbedarfe“ der „Creative City“ entwickelt.
Weitere Informationen:
Arbeitsgemeinschaft zeitgemäßes Bauen GmbH: Flüchtlingswohnen Schleswig-Holstein 2015 – Kieler Modell