/// Kolumne /// – Die deutsche Bundesregierung hat den Versuch unternommen, das Thema Bundeswehr, Heimatschutz und Bündnisverteidigung und Auslandseinsätze einer Generalrevision zu unterziehen und die internationale Sicherheitspolitik aktiv mit zu gestalten. Mit dem neuen WEISSBUCH ZUR SICHERHEITSPOLITIK UND ZUR ZUKUNFT DER BUNDESWEHR (PDF, 4,3 MB), das nach einem umfassenden Dialogprozess aufgelegt wurde, liegt auch eine weitreichende Neubestimmung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vor.
Die Neubestimmung wird angesichts einer neuen Lagebeurteilung und aufgrund des technologischen Wandels bei Waffensystemen, Einsatzfähigkeiten und Vorwarnzeiten notwendig:
„Die konventionelle Landes- und Bündnisverteidigung hat ihren Charakter im Vergleich zur Zeit des Kalten Krieges deutlich verändert: Sie muss sich heute vielfach bei kurzen Vorwarnzeiten gegen eine räumlich fokussierte Gefährdung durch militärische Kräfte unter- oder oberhalb der Schwelle offener Kriegführung stellen. Diese ist immer öfter in eine hybride Strategie eingebettet, die über die gesamte Bandbreite des Bedrohungsspektrums hinweg durch den orchestrierten Einsatz militärischer und nichtmilitärischer Mittel gekennzeichnet ist“(S.88).
Kritische sicherheitspolitische Großwetterlage zwischen NATO und Rußland
Die sicherheitspolitische Gesamtlage ist durch grundhafte Entwicklungen gekennzeichnet:
Das politische System in Rußland ist in den nächsten Jahren ernsthaft vom Zerfall bedroht. Es steht politisch und ökonomisch unter höchsten Druck. Die russische Politik in der Ukraine und im Nahen Osten ist von dem Bestreben geprägt, langjährige ausgeübte Fähigkeiten der USA-Machtprojektion zu übernehmen, um der eigenen Bevölkerung eine starke Führung zu demonstieren.
Dazu gehören der Aufbau und Nachahmung von US-Luftkriegsstrategien, der Einsatz von Kriegsschiffen, Fernbombern und einem Flugzeugträger im Mittelmeer.
Gleichzeitig wurde die lange Phase der friedlichen Kooperation mit der EU genutzt, um die russische Rüstungsindustrie und Waffensysteme mit elektronischen Fähigkeiten zu modernisieren, und zum Teil überlegende Waffensysteme zu bauen. Diese sind praktisch die einzigen erfolgreichen „Export-Technologien“, mit denen Rußland als „Sicherheitsdienstleister“ mit dem Weltmarkt vernetzbar ist.
Mit der Strategie der hybriden Kriegführung in der Ukraine wurde eine neue Bedrohungslage geschaffen, die praktisch die gesamte NATO überrascht hat und die bisherige Verteidigungspolitik und Ausstattung in weiten Teilen obsolet macht.
Verlust entscheidender Abschreckungsfähigkeiten
Der Zustand und Ausrüstung von Bundeswehr und NATO sind angesichts der Herausforderungen von hybrider Kriegführung und modernen Luftkrieg (einschl. zielgenauer Raketenschläge) nicht mehr ausreichend geeeignet, um planvolle feindliche Angriffs-Strategien abzuschrecken. Damit erlangt Russland die Fähigkeit, sich politisch initiativ zu verhalten und nach Belieben durchzusetzen.
Um sich die potentielle direkte und hybride Bedrohung zu vergegenwärtigen, reichen ein paar aktuelle Beispiele:
Ein einzelner Terror-Täter mit Pistole war in der Lage in München über einen halben Tag über 2.300 Polizeikräfte zu binden, und praktisch eine Innenstadt einen Tag lang lahmzulegen. Bei Hybrider Kriegführung würden die Einsatzkräfte als Zivilisten anreisen, sich aus geheimen Depots mit Waffen versorgen, und mitten in Städten zentrale Punkte angreifen. Die Verteidigung wäre sehr schnell überfordert und personell überlastet. Der Waffeneinsatz von Panzern und Bombern verbietet sich von selbst.
In Kaliningrad aktuell übungsweise stationierte Iskander-Raketen mit 700 km Reichweite können binnen einer Stunde alle wichtigen politischen und militärischen Kommandostrukturen in Berlin und Ostdeutschland, in Polen, Tschechischer Republik und im Baltikum zerstören. Auch Helsinki, Kopenhagen und Stockholm liegen in Reichweite.
Sollte Rußland eine permanente Stationierung vollziehen, sind Sicherheitsgefühl und wirtschaftliche Stabilität in Europa auch permanent bedroht. – Putin hat hier eine ultimative Bedrohung im Aufbau.
Gleichzeitig besteht heute die Gefahr eines EMP-Erstschlages (Electromagnetic Pulse), der durch Zündung einer Atombombe außerhalb der Erdatmosphäre ausgeht, und binnen weniger Minuten kontinentweit elektronische und elektrische Infrastrukturen und Waffensysteme, Internet, Medien und Versorgungsinfrastrukturen durch Überspannung lahmlegt. Ein EMP-Erstschlags-Szenario mit anschließender hybrider Kriegführung mit einer großen Zahl von Spezialkräften, „grünen Männchen“ und Luftlandetruppen könnte aus aktueller Sicht alle vorhandenen Verteidigungs-Ressourcen schnell überfordern.
Ferner werden weltweit auf breiter Basis „taktische EMP-Waffen“ entwickelt, die Gebäude, Leitzentralen und ganze Stadtteile gezielt per „Überflug“ zerstören können. Menschen und Gebäude bleiben dabei unversehrt.
Die Entwicklung von „luftatmenden Stau-Strahltriebwerken“ (Scramjet-Technologien) wird in USA, China und Russland vorangetrieben, und führt zur Entwicklung hyperschallschneller Flugkörper, Raketen und lenkbarer Waffenköpfen. Die möglichen Geschwindigkeiten von Mach 10 bis Mach 15 ( 10-15fache Schallgeschwindigkeit) sorgen für extrem kurze Vorwarnzeiten.
Für das auf multinationale Kooperation, Zusammenarbeit, Vernetzung und politische Mandatierung gebaute System deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik stellen die Beschleunigungseffekte und Komplexitäts-Effekte des hybriden Krieges praktisch eine absehbare Überforderung dar.
Die NATO und die Bundeswehr verlieren angesichts neuer Bedrohungsszenarien ihre zentrale politische Wirkung: die Abschreckungsfähigkeit wird durch hybride und moderne Einsatz-Szenarien enorm gefährdet und geht in einzelnen Bereichen sogar ganz oder teilweise verloren.
Angesichts der sicherheitspolitische Lageeinschätzung von Sir Andrew Wood im Arbeitspapier Sicherheitspolitik, Nr. 12/2015 droht bis zum Jahr 2030 zwischen Russland und Europe eine „hybride Dauer-Krise“, die sich jederzeit in taktische oder sogar strategische Kriegshandlungen ausweiten kann (siehe auch: Rußland & Europa 2030: Konflikt oder Kooperation? 4.4.2016).
Unabhängig von politischen Willen und gutwilligen Verhandlungsstrategien entwickeln sich „strukturelle Wirkungen“, die in der Mischung aus „faktischer Bedrohungsmöglichkeit“, „immanenter Bedrohung und ökonomischer Dauer-Belastung“, „militärischer Kalkulierbarkeit“ und „politisch-psychologischen Entlastungsstrategien“ von Eliten zur „Dauerkrise – bis zum Krieg“ führen können.
Die politisch-ökonomische Instabilität Russlands und eine geschwundene Abschreckungsfähigkeit der NATO liefern wechselseitige aufwachsende Krisen-Ursachen. Gefahr droht, wenn ein Krieg seitens eines strukturell zerfallenden Russland zur kalkulierbaren Option für eine vom Machtverlust bedrohte Führungselite wird.
Neue Sicherheits-Kalküle in einer instabilen Welt
Das NATO-Sicherheitskonzept von 2010, und das Leitbild des „Vernetzten Ansatz“ (im Englischen: Comprehensive Approach) für das internationale Krisen- und Konfliktmanagement bilden derzeit die Kernelemente der Sicherheitsdoktrinen, die auch im WEISSBUCH 2016 des BMVg weiter ausgeführt und entwickelt werden.
Für die Bewältigung der bisherigen Krisenszenarien und für eine proaktive Sicherheitspolitik reichen die bisherigen Konzepte jedoch nicht aus. Russland hat mit seiner totalitären Führungsstruktur gegenüber allen multinationalen und vernetzten politischen Führungsmodellen praktisch die Fähigkeit zur Initiative und Machtprojektion über EU und NATO errungen, die sich mittelfristig sogar noch verstärken kann.
Die deutsche und europäische Verteidigungspolitik muss daher neue Sicherheits-Kalküle für eine instabil gewordene Welt entwickeln. Priorität haben derzeit vor allem die Erhöhung von Abschreckungsfähigkeiten, Schließung von strategischen Lücken und die Erhöhung von Flexibilität und Unkalkulierbarkeit der Verteidigung.
Politische Handlungsspielräume existieren nur, wenn es für ganz Europa und für jeden einzelnen NATO-Bündnispartner ausreichende und glaubwürdige Abschreckungsfähigkeiten gibt.
Europäische Verteidigungsagentur ausbauen und zur EU-DARPA umbauen
Europa braucht eine gesamteuropäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, dazu eine modernisierte Verteidigungsforschung und Rüstungsentwicklung, die nur im Wege von multinationaler Kooperation sinnvoll entfaltet werden können.
Die bisher durch „nationale Industriepolitiken“ geprägte Beschaffungspolitik in der EU muss angesichts weiter steigender Systemkosten und mancher gescheiterter Projekte wie dem Airbus A 400 M grundsätzlich neu konzipiert werden.
Die durch eine Gemeinsame Aktion des Ministerrats vom 12. Juli 2004 PDF eingerichtete Europäische Verteidigungsagentur (EDA www.eda.europa.eu) muss weiter gestärkt und in ihrer Tätigkeit auf moderne Bedrohungsszenarien und technologische Weiterentwicklung ausgerichtet werden.
Die EDA sollte in ihrer Struktur an bewährten Innovationsstrategien und Arbeitsteilungen der „Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA)“ in den USA angelehnt werden. Die DARPA führt als Behörde des US-Verteidigungsministeriums auch Forschungs-Projekte und Weltraumprojekte durch – mit einem jährlichen Budget von über vier Milliarden US-Dollar.
Eine „EU-Defense Advanced Research Projects Agency“ unter dem Dach der Europäischen Verteidigungsagentur würde Vorteile und Synergien in der europäischen Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik bieten:
– Ideen, Konzepte und Forschung können breiter aufgestellt werden, multinationale EU-Partnerschaft stärken,
– in der Grundlagenforschung und Anwendungsentwicklung werden Finanzmittel für „Multi-Use-Zwecke“ einsetzbar,
– Beschaffungstraditionen werden überwunden, die bisher Anwendungs-Entwicklungen bis in Beschaffungsphasen verlängern.
– Technologien zum Schutz und Wiederaufbau können für „Multi-Use-Zwecke“ entwickelt werden.
– Asymmetrische Verteidigungs-Technologien erhöhen die Abschreckung und erhöhen Kosten für Angreifer.
– durch Technologie- und Projektwettbewerbe werden Effizienz-Vorteile und Innovationen voran getrieben.
– der Zusammenhalt der europäischen Partner und eine gemeinsame Sicherheitspolitik werden nachhaltig gestärkt.
Die wichtigste Wirkung einer gestärkten EDA: durch gezielte Entwicklungsprojekte kann eine strategische Abschreckungswirkung auch über Zeiträume und konkrete Bedrohungen hinweg projeziert werden.
Das Prinzip „Multi-Use“ dient auch der Entwicklung von zivilen Technologien. Die Entwicklung von modernen Flugzeugmotoren und etwa die Lösung der Getriebe-Probleme bei den Triebwerken des A 400 M wären auch für Löschflugzeuge und zivile Transportflugzeuge nutzbar.
Während Russland heute etwa seine gepanzerten Fahrzeuge modernisiert, die ARMATA-Plattform und den zugehörigen Kampfpanzer in großer Stückzahl einführt, kann deren Bedrohung auch mit kostengünstigen und zahlreichen unbemannten Abwehrwaffen gekontert werden. Derzeit müssen z.B. Soldaten mit Javelin-Panzerabwehr-Raketen im Wirkungsbereich von gegnerische Waffen eingesetzt werden.
Künftig können unbemannte intelligente Systeme wie etwa „herumbummelnde Munition“ (Loitering Weapons & Munition) allein durch ihre Präsenz jegliche Erfolgsoptionen von größeren Panzerangriffen unkalkulierbar machen – und so wirksam abschrecken.
Kleinere, intelligentere und defensive „Area-denial“ Technologien können nicht nur enorme Kosten in der Entwicklung sparen, sondern bei Angreifern auch für unkalkulierbare Kosten eines Angriffs sorgen. Effektivität, immanente Abschreckung und verbesserte Kostenwirksamkeit können für eine Umsteuerung von Rüstungsausgaben in „Multi-use- und civil-use-Technologien sorgen.
Neue Sicherheitsphilosophien auf einem bedrohten Planeten
Die bisherigen Strategien der Waffen-Entwicklung mit „schneller-zielgenauer-wirksamer-teurer“ müssen grundsätzlich hinterfragt und verändert werden, denn sie beschleunigen Krisen und Gefahren, sowie Umweltgefahren.
Eine „de-eskalierende Verteidigungs- und Entwicklungspolitik“ rückt längst in den Bereich des Möglichen.
In einer von weltweiten ökonomischen Krisen, Klimawandel und Flucht geprägten Ära muss Sicherheit nicht nur durch Rüstung, Krisenintervention, Krisenmanagement und Friedensmissionen bestimmt werden – sondern auch durch Sicherheits- und Wiederaufbau-Missionen ergänzt werden.
Die Europäische Union sollte sich hier an die Spitze einer notwendigen internationalen und kooperativen Entwicklung stellen, und militärische Einsatzfähigkeiten mit zivilen Wiederaufbau-Fähigkeiten verbinden.
Die Europäische Verteidigungsagentur wäre die geeignete Institution, um die europäische Kooperation zu stärken und zu modernisieren. Es wäre auch ein Zeichen für eine sehr langfristig angelegte strategische Initiative, die auch in Russland verstanden werden kann!
Das Agreement zwischen EU-Kommission und EDA vom 18.November 2015 über „defence-related research“ ist ein wichtiger Schritt auf dem beschriebenen Weg.
Weitere Informationen:
www.europa.eu/european-union/about-eu/agencies/eda_de
Arbeitspapiere der Bundesakademie für Sicherheitspolitik – Link:
Fünf Illusionen über das System Putin ( Ausgabe 6/2015) – Link
Rußland und Europa 2030 – Konflikt oder Kooperation? – Link