/// Glosse /// – „Basis statt Basta“, lautete die Leitlinie der auf einem Parteitag 2011 beschlossenen SPD-Parteireform. Durch die Modernisierungskur, dem größten Umbau der SPD-Strukturen seit 20 Jahren, erhielten die Mitglieder mehr Beteiligungsmöglichkeiten. So schrieb Jochen Wiemken, Redakteur beim SPD-Parteivorstand am 29.10.2012. Doch das damalige Mitgliederbegehren gegen die Vorratsdatenspeicherung scheiterte, an zu geringer Mitgliederbeteiligung.
Das Thema innerparteiliche Denmokratie steht heute noch immer hoch im Kurs, die Berliner SPD befasst sich gerade erneut damit. Sie hat just eine Mitgliederbefragung gestartet, um das geplante Wahlprogramm für 2016 vorzubereiten. Rund 17 000 SPD-Mitglieder in Berlin haben in der vergangenen Woche einen Fragebogen zugesandt bekommen, in dem 12 Fragen zu unterschiedlichen Politikfeldern zu beantworten sind.
12 Fragen zur Zukunft sozialdemokratischer Politik in Berlin
12 Fragen für ein Wahlprogramm einer Metropole wie Berlin? Ist das nicht ein bischen knapp und sparsam? Oder gehen schon die wenigen Vorschläge zu sehr ins Geld? Oder sehen die Funktionäre die Metropole einfach zu eng? Fehlt der Blick für die echten Probleme der Stadt und Ihrer Menschen?
Immerhin: die Fragen sind so gestellt, dass sich eigentlich vernünftige Antworten quasi wie von selbst ergeben! Das ist clever ausgedacht, von Parteifunktionären, die mittels „persuasiver Kommunikation“ (von lat. persuadere = „überreden“) in der zwischenmenschlichen Kommunikation den Kommunikationspartner beeinflussen wollen.
Kommunikationspartner sind in diesem Fall die Parteimitglieder, die offenbar auf ein wünschbares politisches Ergebnis der Mitgliederumfrage „hingeleitet“ werden sollen.
Jetzt wissen wir auch, warum Funktionäre so heißen: sie funktionieren nicht selbst, sondern wollen ihre Visionen in anderen Köpfen zum Funktionieren bringen. Das geht natürlich nur, wenn man den Parteimitgliedern nicht zuviel Spielraum gibt, etwa zum eigenen Denken.
Brennpunktthemen für Berlin in 12 Fragen quergedacht!
Die zwölf Fragen drehen sich um Brennpunkt-Themen, für die als „sozialdemokratisch“ empfundene Antworten per Abstimmung „gefunden“ werden sollen. Die Mühe wurde unternommen, hier werden die 12 Fragen aufgenommen und nach Strich und Faden konterkariert und quer gedacht! Es wäre doch gelacht! Statt formierter „persuasiver Kommunikation“ wird hier einmal quer gedacht! Die politische Performance der 176 Jahre alten Volkspartei kann so besser auf den Prüfstand gestellt werden!
Wohnungsbau und Mietenpolitik: „Sollen die städtischen Wohnungsbaugesellschaften mehr Wohnungen mit einfacheren Standard bauen, um verstärkt Wohnungen mit günstigen Mieten anbieten zu können?“
Wer will da noch Nein sagen? Bauexperten vielleicht? Werden nicht auch große billige Wohnungen gebraucht, etwa für Flüchtlingsfamilien? Oder genügen einfache Rohbau-Etagen mit Versorgungssträngen, in denen sich junge Künstler, Architekten und andere Bewohner die Grundrisse selbst ausbauen können? Können die so auch Muskelhypotheken abzahlen – gar Eigentumsanteile schaffen? Oder verschenkt man papierne Eigentumsanteile lieber weiter an Großinesvtoren?
Revolutionäres ist offenbar in der SPD-Baupolitik nicht vorgesehen, nach dem „Arbeiter-Schließfach“ soll nun wohl auch noch die staatliche geförderte Ausgabe des landeseigenen „Senioren-Schließfachs“ kommen: 27 Quadratmeter für 380 € sind in ersten GEWOBAG Projekten angesagt. Das sind über 14 € pro Quadratmeter. Auch im Wohnungsbau funktioniert das Prinzip von Billigfliegern: Menschen dichter packen, kleinere Wohnsitze. Senioren können so das 16 Milliarden Euro große Schuldenkonto landeseigener Wohnungsgesellschaften sanieren. Auf dem Baugrundstück gibt es plötzlich den doppelten Profit gegenüber bisher aktuellen landeseigenen Mieten. Offenbar verstehen Sozialdemokraten etwas von Immobilien.
Kitas: „Soll die Qualitätssteigerung vordringlich vor der Beitragsfreiheit sein?“
Hier steht eines der Grundmuster sozialdemokratischer Politik auf dem Spiel. „Sparen und gleichzeitiges Steigern von Qualität“ sind im Universum sozialer und gleichzeitig gerechter Politikstrategien bisher praktisch ausgeschlossen. Die Mehrheit für politisch bedingte Preissteigerungen wird wohl damit vorfestgelegt.
Wahlrecht: „Soll sich die Berliner SPD für eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre auch bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus einsetzen?“
1972 wurde unter dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt erstmals das Alter für das aktive Wahlrecht auf 18 Jahre gesenkt. Ziel war es, „mehr Demokratie zu wagen“. 1996 führte Niedersachsen als erstes Bundesland das aktive Wahlrecht für Wähler ab 16 Jahren auf kommunaler Ebene ein, sechs weitere Länder zogen nach. 2011 durften in Bremen 16-Jährige erstmals an einer Landtagswahl teilnehmen. Dumm nur: mit den politischen Programmen der Parteien setzen sich Jugendliche in der Schule erst in der Oberstufe auseinander. Und in Baden-Württemberg sank nicht nur prozentual die Wahlbeteiligung, sondern die NPD bekam über 3,9% der Wählerstimmen in der U18-Jugendwahl 2011. Offensichtlich ist nicht das Wahlalter, sondern die politische Bildung maßgeblich, wann Jugendliche mitwählen sollten. Es könnte also ins Auge gehen und rechten Gruppen den Weg ins Abgeordnetenhaus ebnen.
Sonntagsverkauf: Soll Berlin eine neue Initiative starten, um das derzeitige bis auf wenige Ausnahmen geltende Sonntagsverkaufsverbot zum Beispiel für so genannte Spätverkaufsstellen (Spätis) zu liberalisieren?
Eigentlich geht es nicht um das „verbieten“ an sich, sondern um die kirchliche Sonntagsruhe. Ein Bannkreis um Kirchen könnte sicher auch mehr Ermessensspielraum, und den Spätis etwas mehr ökonomischen Spielraum schaffen. Vielleicht ließe sich aber auch eine Smart-City-Thematik daraus machen: das Glockengeläut könnte auch künftig per App und Kopfhörer übertragen werden! Die Ordnungsamtsmitarbeiter könnten endlich auch einmals Sonntags ausschlafen.
Verkehr: Soll das Straßenbahnnetz in ganz Berlin ausgebaut werden?
Straßenbahnen stehen natürlich als urdemokratische urbane Bewegungsform in der Sozialdemokratie hoch im Kurs. Aber hat man schon begriffen, dass nach Intetriebnahme des Flughafen BER der Innenstadt-Autoverkehr so enorm zunehmen wird, dass auch Trams immer mehr um Auto-Stau stehen? Ist eine Urban Tech-Lösung besser? Sollte gleich auf die fünfte Form der Beförderung gesetzt werden? Wäre eine erste Hauptverbindung einer kreuzungsfreien Hyperloop-Strecke zwischen Oranienburg und Schönefeld zeitgemäß?
Flexible Arbeitszeiten: Soll die SPD neue Arbeitsmodelle im Rahmen einer maximalen Acht-Stunden-Tätigkeit entwickeln, die Arbeitszeiten auf Wunsch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer flexibler verteilt?
Das Thema ist inzwischen „sowas von 1980er-Style“, dass es eigentlich niemand mehr in Wahlprogrammen lesen mag. Lassen sich Arbeitszeiten noch durch Parteiprogramme bestimmen? Oder gibt es nicht etwas Bedeutenderes an sozialdemokratischen Kernthemen?
Könnte man etwa die Zahl effektiver Arbeitsstunden in der Berliner Arbeitsverwaltung erhöhen, und so mehr Alleinerziehende mit Kindern in Jobs und sinnvolle Arbeit bringen, mehr EU-Förderprojekte in Gang setzen? Lassen sich so Frauendiskriminierung in prekären Jobs und Armutsfolgen bei Frauen und Kindern systemisch abmindern? Könnte Frau Arbeitssenatorin Dilek Kolat endlich auch eine bessere Mittelausnutzung bei Arbeitsförder- und Weiterbildungsmitteln realisieren – statt alljährlich hohe Millionenbeträge verfallen zu lassen?
Bewerbungsverfahren: Soll Berlin anonyme Bewerbungen verstärkt in allen Verwaltungen und möglichst auch in landeseigenen Betrieben einsetzen?
Natürlich sorgen anonyme Bewerbungen für mehr Chancengleichheit. Aber muss es dazu erst ein Gesetz geben? Oder braucht man ein Gesetz, um die Anwendung ungeschriebener Gesetze einzudämmen? Wie wäre es, die Bewerberauswahlausschüsse transparenter zu besetzen?
Cannabis: Sollte sich die Berliner SPD auf Bundesebene für einen neuen Rechtsrahmen einsetzen, der die Abgabe von Cannabis an Erwachsene bei gleichzeitiger Stärkung des Jugendschutzes und der Prävention ermöglicht?
Beim Thema Cannabis gehen natürlich die Meinungen weit auseinander. Seit Jahren wird nur hin und her gedacht – statt „Voran“! Wie wäre es mit einer Verstaatlichung des Cannabis-Anbaus – und eine Cannabis-Steuer?
Pflanzenlampen in Büros und öffentlichen Dienstgebäuden könnten dafür sorgen, dass die explodierenden Verwaltungskosten-Etats in den Griff zu bekommen sind – Verwaltung verdient plötzlich Geld, statt immer mehr Geld zu verbrauchen! – Das wäre doch ein innovativer Ansatz!
Teilhabe an Kultur: Soll sich die SPD bei den Staatlichen Museen für die Wiedereinführung einer entgeltfreien Zeitspanne einsetzen?
Welcher Teufel hat in der Kultur Regie geführt? Soll es künftig „Armenführungen“ und „Teilhabe-Zeitfenster“ im Kulturpublikum geben? Hat man schon etwas von „Apartheidspolitik“ gehört? Wäre es nicht längst an der Zeit, den teuren Unfug und Wildwuchs von diversen Ermäßigungstarifen in Kultureinrichtungen zu vereinheitlichen, um Verwaltungs- und Abrechnungskosten zu sparen? Wären Freitickets für Kinder und Schüler und vor allem für Alleinerziehende nicht die bessere Alternative, weil sie aus Einsparungen finanziert werden können? Wäre es nicht gerechter, Alleinerziehende zu begünstigen, weil sie niemals vom Ehegattensplitting profitieren können? Und müssen nicht auch Familien- und Freundes-Tickets her, damit Kinder sich untereinander besser integrieren?
Sicherheit: Sollen zusätzliche Polizistinnen und Polizisten für Fuß- und Fahrradstreifen eingestellt werden?
Das ist eine gute Frage. Hört sich nach mehr Sicherheit an! Aber wurde bedacht, dass bis 2020 rund 30% aller Polizeibeamten in Pension gehen? Das sorgt urplötzlich für steigende Verwaltungskosten, weil zuerst ein Pensionär und eine zusätzliche Neubesetzung zu bezahlen sind. Die richtige Frage wäre doch, wie will man die bevorstehende enorme Steigerung der Personalkosten auffangen? Und wie will man die absehbare Schrumpfung der Polizei wenigstens bremsen, bei zugleich massiv steigenden Aufgaben? Es wird wohl eine weitere Polizeireform geben müssen, nicht nur verbreiterte Einstellungskorridore.
Pflege: Soll sich Berlin auf Bundesebene für einen Rechtsanspruch auf flexible Tages- und Nachtpflegeangebote zur Betreuung und Versorgung Pflegebedürftiger einsetzen?
Diese Frage ist dreist, weil wir längst gesichterte Pflege-Ansprüche haben, aber enorme Vollzugs- und Umsetzungsdefizite. Gerade aus Kostengründen sollte es ein Eigeninteresse geben, Pflege flexibler als bisher zu organisieren. Wichtiger wäre es, die Betroffenen und Angehörigen besser zu informieren. Zum Beispiel darüber, dass jedem Pflegebedürftigem Pflegehilfsmittel, welche zum Verbrauch benötigt werden, in Höhe 40,00 Euro monatlich zustehen.
Neutralitätsgebot: Soll die religiöse Neutralität in hoheitlichen Bereichen des Staates beibehalten werden, so dass zum Beispiel auch Lehrerinnen, Richterinnen und Polizistinnen weiterhin kein Kopftuch tragen dürfen?
Die Frage wird aus Gründen der Praktikabilität leicht auf das Wort „Kopftuchverbot“ ja oder nein reduziert. Doch damit ist bereits die Preisgabe unserer universellen Werteordnung verbunden. Wir wollen alle religiösen Gruppen in der Schule zur Neutralität verpflichten, die so eine besondere Voraussetzung schafft, Schule als einen universeller Toleranz verpflichteten öffentlichen Raum zu schützen.
Toleranz und Vielfalt lassen sich aber in der Schule nur vermitteln, wenn man dafür auch die Bildungsvoraussetzungen geschaffen hat. Wäre es nicht klug, die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrem Bildungsstand mit religiösen Vertretern zusammen treffen zu lassen? Sollten nicht auch christliche, jüdische, muslimische, buddhistische und hinduistische Vertreter im Weltanschauungsfragen zeitweise gehört werden? Oder will man die Schüler nachmittags heimlich an Koranschulen drängen?
Staatliche Neutralität und universelle Toleranz sind zuerst Voraussetzungen, um sich mit religiöser und kultureller Vielfalt frei befassen zu können? Bewegen wir uns doch auf die Interkultur zu, in der es wichtig wird, Bildungsvoraussetzungen und Wahlfreiheiten erst erarbeiten zu müssen? Sollen wir uns in derart wichtigen Fragen von Dualismen und Allgemeinverboten leiten lassen? Wäre es nicht besser, staatlich geprüfte Religionslehrkräfte in Schulen zu schicken, und die Wahl der Kleidung im Weltkundeunterricht frei zu stellen?
Das Beste kommt zum Schluß: die 12 Fragen sollen gewichtet werden!
Gewichtung der Fragen: die SPD-Mitglieder sollen schließlich Fragen und Themenkomplexe gewichten, und auswählen, welche ihnen am Wichtigsten für den kommenden Wahlkampf sind – ein Spiel mit sehr offenen Ausgang womöglich.
SPD: Mitgliederbefragung mit Ansage
Statt nun die SPD-Mitglieder in Ruhe ihre Antworten aufschreiben zu lassen, hat die Berliner SPD-Führung die gebotene Geduld verloren, und sich aus der gebotenen Deckung hervorgewagt. SPD-Fraktionschef Raed Saleh hat die 12 Fragen am 25.10.2015 bereits öffentlich in einem Beitrag der Berliner Morgenpost beantwortet, und so eine Richtung vorgegeben.
Am gleichen Tag noch hat sich auch die SPD-Führung in einer weitere Frage festgelegt: „Die Berliner SPD-Spitze ist sich einig und lehnt das Tragen des Kopftuchs bei Lehrerinnen, Polizistinnen und Richterinnen ab. In der derzeit laufenden Mitgliederbefragung in der SPD bekennen sich der Regierende Bürgermeister Michael Müller, SPD-Landeschef Jan Stöß und der SPD-Fraktionschef Raed Saleh geschlossen zum Berliner Neutralitätsgesetz und zu dessen Beibehaltung. Das Gesetz untersagt das Tragen religiöser Kleidungsstücke und Symbole wie etwa Kopftuch, Kippa und Kreuz im Staatsdienst und betrifft insbesondere Frauen und Männer im Richteramt sowie im Schul- und Polizeidienst,“ hieß es ebenfalls am 25.10.2015 in der Berliner Morgenpost.
Postdemokratie und „aufgeführte innerparteiliche Demokratie“
Die Berliner SPD hat nun eine Mitgliederbeteiligung mit Ansage auf den Weg gebracht – leicht möglich, dass Mitglieder nun noch die Lust am Antworten verlieren. Die Parteiführung mochte keine Leine lassen, keine Geduld üben – sondern band den Sack gleich wieder zu. Willkommen in der Postdemokratie!
Nach Wladimir Wladimirowitsch Putins „gelenkter Demokratie“ hat die Berliner SPD-Führung mit dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller, Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh und Parteivorsitzenden Jan Stöß das Verfahren der „performativen Demokratie“ eingeführt.
Wohlüberlegte persuasive Kommunikation verwandelt das Procedere der Mitgliedermitbestimmung in eine „aufgeführte Demokratie“. –
Ein Weg, der beim Parteivolk und beim Wahlvolk gleichermaßen Politiverdrossenheit fördern muss.