Im September 1988 nahm die „Ossietzky-Affäre“ ihren Lauf. Schülerproteste an der Carl-von-Ossietzky-Schule in Berlin-Pankow entwickelten sich zur Staatsaffäre. Am 30. September 1988 wurden Schüler von der Schule geworfen, weil sie sich offen für Frieden und die Solidarność-Opposition in Polen und gegen Militärparaden und Rechtsextremismus in der DDR ausgesprochen hatten. Das Vorgehen offizieller Stellen gegen Schüler löste in Ost und West Proteste aus.
Vorgeschichte: FDJ fordert „Speaker´s Corner“
Auf Wunsch der FDJ-Grundorganisation erteilte Schul-Direktor Forner der EOS „Carl von Ossietzky“ zu Beginn des Schuljahres 1988/89 die Genehmigung, eine „Speaker’s Corner“ einzurichten. Hier sollten Schülerinnen und Schüler offen und unzensiert Stellung zu den sie bewegenden Themen nehmen.
11.September 1988 – erste Proteste
Einige Schüler der Schule fielen der Staatssicherheit bereits zur „Gedenkkundgebung zur Ehrung der Opfer des Faschismus“ auf dem Bebelplatz am 11. September 1988 auf. Darunter waren unter anderem Benjamin Lindner und Philipp Lengsfeld mit selbstangefertigten Transparenten gegen faschistische Tendenzen und Neonazis in der DDR erschienen.
Sie wurden von „Personenschützern“ des MfS kurzzeitig zur Identitätsfeststellung festgenommen.
Nur einen Tag darauf hefteten Benjamin Lindner und Shenja-Paul Wiens den kritischen Artikel „So sehen wir das. Anmerkungen zur derzeitigen Situation in der VR Polen“ an die Wandzeitung der Schule. Dieser Beitrag endete mit der Aufforderung zu Reformen und Machtbeteiligung der Solidarność und anderer oppositioneller Gruppen:
„Wir meinen, dass eine Machtbeteiligung der Solidarnosć und anderer oppositioneller Kräfte unerlässlich ist, damit diese Reformen nicht, wie so oft in der 40jährigen Geschichte der Volksrepublik Polen, im Sande verlaufen.“
Noch am selben Tag wurde der Artikel von ihrem Mitschüler Karsten Krenz, Sohn des damaligen Stellvertreters des Vorsitzenden des Staatsrats und späteren SED-Generalsekretärs Egon Krenz, entfernt und am Tag darauf mit einem kritischen Kommentar wieder angebracht. Die Staats- und Parteiführung war so von Anfang an über die Vorgänge informiert.
14.September 1988 – Protest gegen Militarismus
Am 14. September wurde von Kai Feller ein weiterer Artikel am „Speaker’s Corner“ angebracht, der die Notwendigkeit von Militärparaden anlässlich des Jahrestages der DDR bezweifelte und zu einem Verzicht auf selbige aufforderte. Dieser war mit einer Unterschriftenliste versehen, auf der sich 38 der rund 160 Schüler eintrugen, bis die Aktion durch den Stadtbezirksschulrat gestoppt wurde. Zugleich setzten scharfe Attacken gegen Schule und Schüler ein. Die Schüler Lengsfeld und Lindner beantworteten diese mit dem Lobgedicht „Du Meine“ auf die Kalaschnikow aus der Zeitung „Die Volksarmee“, das mit einem ironischen Kommentar versehen wurde.
Damit wurde der Schülerprotest endgültig zur Staatsangelegenheit, die oppositionellen Aktivitäten schlugen hohe Wellen und wurden nun auch außerhalb der Schule publik.
Unter den vier hauptsächlich beteiligten Schülern war Philipp Lengsfeld (heute CDU-Bundestagsabgeordneter, Sohn der kurz zuvor ausgebürgerten Oppositionellen Vera Wollenberger, Mitgründerin des Friedenskreises Pankow, der 1981 in der Evangelischen Kirchengemeinde Alt-Pankow gegründet wurde.
Zu dessen maßgeblichen Gründungsmitgliedern und Initiatoren gehörten neben Pastorin Ruth Misselwitz und ihrem Ehemann Hans-Jürgen Misselwitz der Grafiker Martin Hoffmann, Marina Grasse, Freya Klier, Gerd Stadermann und Vera Wollenberger. Auch die späteren Bundestagsabgeordneten Angelika Barbe und Werner Schulz wirkten hier mit.
MfS kontrollierte die Schule
Das MfS hatte zur geheimen Kontrolle im Schulbereich der Carl-von-Ossietzky-Schule den Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) „Ilona“ für Spitzelberichte eingesetzt. Der IM gab nicht nur die Schülertexte, sondern auch Stimmungen und Meinungen einzelner Lehrer im Kollegium an die Stasi weiter.
Schon am 17. September hatte die Stadtbezirksschulrätin die Unterschriftensammlung verboten. Nach dem Kalaschnikow-Artikel wurden die Schüler persönlich scharf attackiert.
Es kam zu Verhören, tribunalähnlichen Versammlungen und Diffamierungen. Von den 38 Unterschriften wurden auf Druck der Schule, SED und Elternhäuser 30 wieder zurückgezogen.
Die verbliebenen acht Unterzeichner wurden hart bestraft: Kai Feller, Katja Ihle, Phillip Lengsfeld und Benjamin Lindner wurden von der Schule geworfen.
Ein Studium in der DDR wurde ihnen dadurch unmöglich gemacht. Georgia von Chamier und Shenja-Paul Wiens wurden strafversetzt. Die anderen beiden erhielten einen Schulverweis.
Welle der Solidarität mit den Schülern
Die Vorgänge lösten in der DDR-Gesellschaft große Bestürzungen aus, da viele sich an die politische Repression und das kompromisslose Vorgehen gegen Oppositionelle an DDR-Schulen in den fünfziger Jahren erinnert sahen.
Eine ungeahnte Welle der Solidarität mit den betroffenen acht Pankower Schülern entstand.
Am 16. Oktober 1988 berichteten die Umweltblätter der Berliner Umwelt-Bibliothek über die Vorgänge. Unter dem Titel „Was geschieht an unseren Schulen?“ verbreitete Wolfgang Rüddenklau die Einladung zu einer Strategiekonferenz in der Berliner Zionskirche.
Das Schulgebäude der Carl-von-Ossietzky-Schule wurde Anfang November 1988 mit der Parole „Weiterfragen!“ und Fragezeichen versehen. Zur Aufklärung der Urheber der Parolen wurde sogar ein Fährtenhund eingesetzt (siehe Bild), dessen Fährtenverlauf genau dokumentiert wurde.
Unter dem Titel „Das Risiko eine eigene Meinung zu haben“ berichteten die Umweltblätter später im Dezember 1988 noch ausführlicher über den Fall. Zudem stellten sie 3000 Flugblätter her, die über die Vorkommnisse aufklären sollten
Auch zahlreiche Kirchen beteiligten sich mit Informations- und Solidaritätsgottesdiensten an den Protesten.
Die Durchführung von kirchlichen Aktionswochen wurde durch den Generalsuperintendenten Günter Krusche behindert, der in Abstimmung mit dem Berliner Superintendenten Manfred Stolpe den Kirchen nahelegte, „derartige Veranstaltungen in den Kirchen und Gemeindehäusern nicht zuzulassen“.
Unterstützung auch in West-Berlin
Öffentliche Unterstützung erfahren die Pankower Schüler auch aus der Bundesrepublik. Lehrer West-Berliner Schulen richteten einen öffentlichen Appell an die Regierung der DDR um somit gegen die Repressalien zu protestieren. Auch die Internationale Vereinigung der Ärzte gegen Atomkrieg (IPPNW) verurteilte die staatlichen Maßnahmen in einem öffentlichen Brief in ihrer Zeitschrift.
Schülerprotest wird Vorbote der friedlichen Revolution von 1989
Die Proteste wurden so zu einem der Vorboten der friedlichen Revolution ein Jahr später. Die Ossietzky-Affäre spielt deshalb eine wichtige Rolle im Kontext der erstarkenden Oppositionsbewegung zum Ende der DDR.
Ein Text des Historikers Ilko-Sascha Kowlczuk erklärt den Ablauf der Ereignisse ausführlich:
„Das wahrscheinlich Bedeutungsvollste an den Vorgängen war, dass vor allem viele jener Bürger aufgeschreckt wurden und vorsichtig ihren Protest artikulierten, die sich ansonsten mit den Verhältnissen arrangiert und sich angepasst hatten. Daraus erklärt sich auch, warum während der Revolution 1989 und nach dem Fall der Mauer die Vorgänge ausführlich in den Medien dokumentiert wurden, eine Untersuchungskommission eingesetzt wurde und die Verantwortlichen, die sogar elf geltende Gesetze und Verordnungen der DDR missachtet hatten, belangt und teilweise entlassen wurden.“
Jens Reich sah 1989 in den abgestraften Schülern der Carl-von-Ossietzky-Schule Pankow nicht zu Unrecht „Pioniere“ der revolutionären Bewegung.
Die bisher wenig aufgearbeitete Rolle der Stasi in diesem Fall beleuchtet eine neue Themenseite der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStI), die wichtige Unterlagen der Geheimpolizei zu dem Fall zusammenfasst.
Weitere Informationen:
BStU: „Rausgeschmissen“ Die Relegation von Schülern der Carl-von-Ossietzky-Schule vor 25 Jahren
DDR-Historie: Die vergessene Geschichte des 9. November 1988 – WELT 6.04.08