/// Kolumne // – Das Pulverfaß Mittlerer Osten wird am Besten durch eine kraftvolle politisch-wirtschaftliche Zukunfts-Strategie gesichert. So eine Strategie entsteht, wenn wichtige Beteiligte und Partner sich für zehn, zwanzig, dreissig und fünfzig bis hundert Jahre aufeinander abstimmen können, und gemeinsame Entwicklungstränge verfolgen. Rund 5% der Menschheit leben heute in einem Krisengebiet, das längst auch wegen Wasserknappheit „Klimakrisengebiet“ ist.
Zugleich ist es einer der zentralen Räume auf dem Planeten Erde, in dem sich die Zukunft der Menschheit entscheidet. Es geht um jenen Raum, der im englischen Sprachgebrauch „Middle East“ heißt, der aber heute längst größer und weiter gedacht werden muss.
Es geht um jenen Teil der Welt, in dem einst die Wiege der Zivilisation entstand, die heute zum Quell und zur Wiege ewiger Barbarei zu werden droht. Der Raum reicht vom Mittelmeer und Levante, über die arabischen Länder bis zum Hindukusch und bis zum Indus.
Europa, die arabischen Nationen sowie Iran und Indien können eine gemeinsame Zukunft erschaffen, wenn sie sich auf eine „Greater Middle East Strategy“ einigen können, die zugleich eine konstruktive Ergänzung zu dem von China initierten Projekt „neue Seidenstraße“ ist.
Es geht um eine Strategie, die die Zukunft und den Wohlstand der beteiligten Nationen und deren wirtschaftliches Überleben im laufenden Klimawandel begründen hilft – und das langfristige Eigeninteresse weckt.
Die Verantwortung Europas
Europa hat hunderte Jahre Kriegserfahrungen, Erfahrungen beim Wiederaufbau – und Erfahrungen – wie man nach langen Frieden auch Lehren aus der Vergangenheit ziehen kann, neue Bündnisse und Freundschaften entwickeln kann.
All diese Erfahrungen hat Europa den arabisch geprägten Stammesgesellschaften voraus, die aufgrund ihrer Struktur ihre Stabilität immer nur von „begnadeten Führern“ ableiten können. Die inhärente Instabilität von Stammesgesellschaften passt nicht mehr in die heutige Welt, in der sich parallel viele demokratische und arbeitsteilige Strukturen selbsttragend und selbstorganisierend nebeneinander entwickeln können müssen.
Es fängt mit der Feuerwehr, der Sicherheit, dem Militär an – und es endet bei Gesundheit, Ernährung, Wirtschaft und Kultur.
Die wichtigste Erfahrung hat Europa den arabischen Stammesgesellschaften eigentlich auch voraus: wir wissen, dass Frieden nur entstehen kann, wenn man die Herzen und Köpfe der Menschen dafür gewinnen kann. – Und doch haben wir uns von der scheinbar überlegenen „US-Bombardierungs-Kultur“ der Kriegsführung davon abbringen lassen.
Als Folge geraten alle gesellschaftlichen Systeme in existenzielle Gefahren, weil sich nirgends mehr die „befriedende Wirkung“ von „Vertrauen“ einstellen kann. Satellitenüberwachung, Internetüberwachung und Echtzeit-Reaktionsfähigkeiten sorgen dafür, dass alle politischen Bemühungen um Vertrauensbildung „technologisch hintertrieben“ werden.
Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist nur möglich, wenn man „vertrauensbildende gemeinsame Echtzeit-Sicherheitssysteme“ aufbaut, und „Frühwarn-Vorsorge-Systeme“ aufbaut – statt in konkurrierende „strategische Überraschungsfähigkeiten“ zu investieren.
Wir werden als Menschheit noch lernen müssen, dass alle digitalen Systemen eine technologisch-inhärente Quelle von Mißtrauen und Zerstörung sind.
Europa sollte deshalb die Führung in die Hand nehmen und völkerrechtliche und technische Innovationen anregen, die geeignet sind, ein multilaterales Sicherheitssystem zu schaffen.
Alle wohlwollenden Kooperationspartner sind in so ein gemeinsames Sicherheitssystem aufzunehmen, das auch die Terrorbekämpfung durch „polizeiliche Mittel“ in die Hand nimmt, wenn nötig mit paramilitärischen Spezialkräften.
Obamas neue Sprache
US-Präsident Barack Obama hat seine Sprache verändert. Im Kampf gegen den Terror weigert er sich, den „radikalen Islam“ als Feind zu definieren. Er nutzt lieber den klinisch reinen Begriff vom „gewaltsamen Extremismus“ (FAZ 26.11.2015). Dieser Schritt ist bedeutsam, weil er den Extremisten politische Energie entzieht – und den „Irrtum in den Köpfen“ beseitigt, wir hätten es mit einer reolutionären religiösen Bewegung zu tun. Den Extremisten kann so zugleich die Grundlage für erfolgreiche Propaganda entzogen werden.
Beim Phänomen des IS handelt es sich um eine durch Internettechnologien und soziale Medien entgrenzte ideologische Bewegung, die sich „außerhalb jeglicher Zivilisation“ aufstellt, und zuvor wirtschaftliche und militärische Macht erlangt hat.
Das Phänomen „IS“ sollte besser Daesh (ausgesprochen Da-esch) genannt werden. Es steht für „Al-Daula al-Islamija fil-Irak wal-Scham“ und kann als „Der Islamische Staat im Irak und der Levante“ übersetzt werden. Der Begriff „Daesh“ ist im arabischen Raum zudem sehr negativ behaftet, da er dem Wort „Daeshi“ ähnelt, das jene scheinheiligen Glaubenseiferer bezeichnet, die anderen ihre Meinung aufzwingen und durch Säen von Zwietracht der Gemeinschaft schaden.
Wir sollten uns Obamas neue Sprache und die von Frankreichs Staatspräsident François Hollande und seinem Außenminister Laurent Fabius verwendete Bezeichnung „Daesh“ zu eigen machen – und damit einen Weg öffnen, der dem ideologischen System des Terrors künftig mit polizeilichen Mitteln, „Irrenärzten“ und Medienpsychologen begegnet.
Nur so kann auch eine historische Versöhnung zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Saudi-Arabien und dem Iran vorbereitet werden, die „existenznotwendig“ für die Zukunft von „Greater Middle East“ ist.
Prioritäten: Klimawandel – Ernährungssicherung – Wirtschaft
Die arabischen Völker haben derzeit keine stabile Zukunftsperspektive. Das Fehlen einer Zukunftsperspektive ist der entscheidende Mangel und das größte Entwicklungshemmniss. Weil eine mögliche kommende Realität nicht in Betracht gezogen werden kann, besteht der „narrative Raum“ für „Jensseits-Erzählungen“, der es radikalen Predigern so leicht macht. All jene gebildeten und ambitionierten Menschen aus dem arabischen Raum fliehen aus diesen Verhältnissen, und bauen woanders in der Welt neue Zukünfte auf. Dieser Verlust an Wissen, Fähigkeiten und Möglichkeiten ist zugleich Quelle für Instabilität, fortdauerne Unterentwicklung und neue Krisen.
Die „Greater Middle East Strategy“ muss die Prioritäten neu ordnen helfen – und eine zivilisatorische Strategie für das kommende 22. Jahrhundert entwerfen. Bis zum Jahr 2050 müssen die Infrastrukturen geschaffen sein, die das Überleben über das Jahr 2080 hinaus ermöglichen und sichern.
Staaten wie Syrien, Saudi-Arabien, Jemen – aber auch Irak und Iran stehen heute längst vor einer Phase des „zivilisatorischen Überlebenkampfes“, um die Modernisierung und Anpassung an den Klimawandel überhaupt bewältigen zu können.
Entzerrung statt Verwicklung – drei Entwicklungstränge
Europa hat bisher keine Strategie für den Mittleren Osten entwickelt – und auch das europäisches „Businessmodell“ ist inzwischen instabil geworden. China hat sich längst strategisch positioniert – und mit dem Projekt „Neue Seidenstraße“ eine magische Perspektive aufgelegt, während Europäer noch in „fliegenden Bombenteppichen“ denken.
Doch eine Greater Middle East Strategie könnte zur wichtigsten Basis eines neuen, kooperativen Geschäftsmodells werden, das sich zwischen Levante und dem indischen Subkontinent entfalten lässt, an dem alle Nationen kooperieren können.
Zwischen dem Mittelmeer liegen drei strategische Entwicklungsstränge, die von drei strategischen Konflikten blockiert und ausgebremst werden:
– der palästinensisch-israelische Konflikt blockiert das Zustandekommen eines „europäisch-sunnitischen“ Entwicklungsstrangs.
– der schiitisch-sunnitische Konflikt verhindert eine integrative Greater Middle East Strategie
– der türkisch-kurdische Konflikt verhindert ebenfalls den Aufbau einer Gesamtstrategie.
Der Bürgerkrieg in Syrien ist zwar mit diesen drei Konfliktlinien verbunden – aber eher ein gesonderter Kriegsschauplatz, der innersyrisch gelöst werden kann, sobald „Daesh“ in Syrien entmachtet ist. Russland kann dabei hilfreich sein, weil es die mehrdeutige Politik der türkischen Führung einhegen kann.
Die politische Kunst besteht wohl darin, die Konfliktlinien in „Greater Middle East“ zu entzerren, statt als unlösbaren Knoten zu betrachten.
Vor allem aber: es sind drei Konfliktlinien, bei denen ein friedlicher Wettbewerb in Gang gesetzt werden kann, wer schneller und nachhaltiger in eine gesicherte Zukunft streben kann.
Angesichts dramatischer weltweiter Flüchtlingszahlen fehlen weltweit wenigstens 60 neue Millionenstädte – viele davon müssen in Greater Middle East wieder aufgebaut und neu errichtet werden.
Israel, Palästina und Jordanien sind Schlüsselpartner
Europa sollte alles daran setzen, um den israelisch-palästinensischen Konflikt zu entschärfen und zu befrieden. Die friedliche „Greater Middle East Strategy“ sollte über die Achse Haifa – Nazareth (Israel) und Irbid – Al Mafraq (Jordanien) begonnen und ausformuliert werden. Hinter Al Mafraq wird die wichtige Verbindungstraße 10 nach Bagdad zur bedeutenden Entwicklungsachse.
Die Prinzipien sind einfach: sichere Häfen, sichere Städte und Siedlungen – sichere Märkte, sichere Zonen, sichere Wasserversorgung und sichere Ernährung werden entlang des israelisch-jordanischen Strangs entwickelt. In der Wüste und entlang der Wüstenstraßen müssen „sichere Stationen“ und „sichere Marktplätze“ geschaffen werden. Es müssen Lebenschancen und Siedlungen für wenigstens drei Millionen Menschen geschaffen werden, die heute in provisorischen Lagern und prekären Bedingungen leben – und vor allem Jordanien destabilisieren.
Unabhängig vom Ausgang des syrischen Bürgerkriegs und unabhägig vom Kampf gegen „Daesh“ ist auf die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu setzen – und Jordanien einzubeziehen.
Amman entwickelt sich heute zu einer interkulturellen Stadt, die für die sunnitisch-arabische Welt eine Perspektive setzt. Amman könnte als geistig-kulturelles Zentrum der arabischen Welt viel stärker gefördert werden – und so auch eine gesunde Entwicklungskonkurrenz mit Saudi-Arabien um einen fortschrittlichen arabischen Weg entfalten. Vor allem wächst in Jordanien in den Flüchtlingslagern eine neue Jugend heran, die mit europäischer Unterstützung eine stabile Entwicklung vorantreiben kann. Schon heute sorgen UNHCR und Weltflüchtlingshilfe für das Überleben. Gäbe es einen Plan, so könnten auch eine selbsttragende Entwicklung in Gang kommen. Europa könnte auch vor Ort „Arbeitsplätze“ schaffen – statt „bürokratische Formeln“ von „Fluchtursachenbekämpfung“ auf Papiere zu drucken, oder in Bundestagsmikrofone zu sprechen!
Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts
Die Kurden im Irak sollten besser unterstützt werden, und in den Aufbau eines regionalen Sicherheits-Systems einbezogen werden. Im Kampf gegen „Daesh“ sollten die großen kurdischen Städte zuerst in „sichere Städte“ ausgebaut werden. Die Kurden sollten bis zu einer friedlichen Neuordnung des Irak wie eine „irakische Regionalregierung“ behandelt werden.
In der künftigen multinationalen Sicherheitsarchitektur muss es eine „kurdische Komponente“ geben, die durch eine europäische Unterstützung gesichert wird.
Solange es in Bagdad eine schiitisch-radikale Stammespolitik gibt, wie sie von Ministerpräsident Maliki etabliert wurde, wird es im Irak keinen Frieden geben. Ob der Irak als Bundesstaat zwisschen Kurden, Schiiten und Sunniten jemals neu entstehen kann, ist offen.
Solange der türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan seine undurchsichtige Politik verfolgt, wird es sicher kein entspanntes Verhältnis zwischen Türken und Kurden geben können. Der türkisch-kurdische Konflikt muss deshalb durch äußere Unterstützung und Stärkung der Kurden gelöst werden. Zerfällt dabei der irakische Staat gänzlich – muss es einen kurdischen Staat geben, der international anerkannt wird.
Gibt Erdogan seinen radikalen Kurs auf, und unterstützt eine friedliche Einigung im Irak, so könnte es einen irakischen Bundesstaat mit kurdischen, sunnitischen und schiitischen Regionalregierungen geben.
In jedem Fall muss Europa stärker für die demokratische Einbindung der Kurden in der Türkei eintreten – und der Politik des türkischen Präsidenten Erdoğan etwas entgegenhalten. Indem man stärker mit Jordanien, Kurden und Iran kooperiert, würden sich auch die klandestinen Großmachtambitionen Erdoğans als Größenwahn erweisen.
Lösung des schiitisch-sunnitischen Konflikts
Europa sollte als kultureller Mittler auftreten, und ein Angebot für eine Aussöhnung zwischen Schiiten und Sunniten im Irak formulieren. Dazu muss der Iran selbst einen Beitrag leisten, und vor eine elementare Entscheidung gestellt werden:
– Kooperation und Einbindung in der Region,
– oder weitere iranische Intervention und militärisch-politische Einflußnahme?
Eine Greater Middle East Strategy, in der der Iran weiter Raketen an Hisbollah liefert und Milizen nach Syrien und Libanon entsendet, ist undenkbar.
Entscheidet sich der Iran für Kooperation und Einbindung, wäre einer multinationalen Sicherheitsarchitektur in „Greater Middle East“ der Weg geebnet, die sich künftig zwischen Levante und Hindukusch, zwischen Mittelmeer und arabischen Golf entfalten kann.
Vor allem aber könnte sich Iran selbst zwischen den arabischen Staaten und dem indischen Subkontinent mit Pakistan und Indien als bedeutsames Partnerland positionieren und zugleich modernisieren.
Kulturwandel und Modernisierung
Sunnitische Stammesgesellschaften und religiös geführte Staatsgesellschaften, wie im Iran, kommmen um einen grundlegenden Kulturwandel und eine Modernisierung nicht herum. Digitalisierung, weltweites Internet und moderne Technologien fördern komplex vernetzte arbeitsteilige Systeme, die auf demokratisch akzeptierter Basis selbsttragend laufen und sich entfalten können. Werden dagegen Freiheiten und politische Widerstände entfaltet, entwickeln sich nur neue Krisen – niemals aber Stabilität.
Der nötige Kulturwandel, von direkter Machtausübung zu indirekter Steuerung und „soft Power“-Governance ist unumgänglich, Vermutlich gibt es nur ein „Bildungsproblem“, um diesen Weg zu beschreiten.
Um eine positive Entwicklung anzustoßen ist daher eine Politik „für“ mehr Universitäten, Akademien, für mehr religiöse und philosophische Fakultäten und für mehr universelle und interkulturelle Toleranz nötig.
Auch Europäer und Amerikaner könnten davon lernen – denn der „Krieg gegen Etwas“ ist weder eine Strategie – noch eine Kultur. Der alte General Clausewitz rotiert wohl im Grabe, weil man in der modernen „Luftkriegsführung „die Achse von Zweck, Ziel und Mittel“ unrettbar aus dem Auge verliert, und falschen „Bombardierungslogiken“ folgt.
In den Krisengebieten Syien und Irak braucht man keine großen Bodentruppen, um friedlich einen Sieg zu erringen. Es würde genügen, die Brunnen und Wasserversorgungen zu sichern.
Um das zu Erkennen müssen auch die Europäer sich wandeln, und sich aus dem politisch-medialen und fiktionalen Raum auf die Erde und den Boden echter Tatsachen holen lassen.