Der Verhüllte Reichstag war ein Kunstprojekt des Künstlerehepaars Christo und Jeanne-Claude, welches das Reichstagsgebäude vom 24. Juni bis zum 7. Juli 1995 vollständig mit aluminiumbedampftem Polypropylengewebe verhüllte. Damals sollte das Gebäude umgebaut werden, es war praktisch menschenleer.
Über die damalige Kunstaktion können die 29 Erwachsenen und 16 kleinen Bewohner im Mietshaus Kopenhagener Str. 46 in Prenzlauer Berg nur müde lächeln. Sie wohnen jetzt schon über drei Monate hinter weißen Polypropylen-Winterbauplanen, die sich optisch nur wenig von der ehemaligen Reichstagsverhüllung unterscheiden. Heute ist der 96. Tag hinter der Folienverpackung.
Die Christmann-Gruppe hatte das Mietshaus erworben und will hier eine umfangreiche energetische Sanierung des Hauses durchführen.
Kinder in Angst und Sorge
„Papa, wir zahlen doch jeden Monat Geld dafür, dass wir hier wohnen. Warum lässt uns der Besitzer des Hauses nicht mehr die Sonne und die Bäume aus dem Fenster sehen?“
Mittlerweile fühlen sich Eltern und Kinder wie Gefangene in einem Foliengefängnis. Die Fragen seiner Kinder im Haus Kopenhagener Strasse 46 im Prenzlauer Berg konnte der Vater nicht beantworten, auch die anderen Eltern geraten zunehmend in Erkärungsnot.
Hilflos vor Gericht
Wenn Eltern ihre Kinder wochenlang hinter Folien in Kinderzimmer einsperren, wäre die Frage nach dem Kindeswohl im Raum. Sperrt ein Vermieter Eltern und Kinder wochenlang hinter Baufolien ein, so geht das einfach durch – sogar vor Gericht. Bisher hat auch kein Gericht oder Berliner Amtsrichter geholfen, obwohl die Eltern einstweilige Verfügungen serienweise beantragt haben.
Beim bisher eingeschalteten Amtsgericht werden die Anträge auf „Einstweiligen Verfügungen“ der Mieter sehr unterschiedlich bewertet und bearbeitet.
Während eine Mieterin im Erdgeschoss Recht bekam, und deren Plane teilweise entfernt wurde, liegen Beschwerden zweier anderer Mieter gegen abschlägige Bescheide von Richtern seit mehr als 2 Monaten in der Schublade. Die Justiz ist offensichtlich unsicher, was zu tun ist.
Unterschiedliche Erklärungen, Ausflüchte, Täuschung?
Die Investorenvertreter haben gegenüber den Gerichten auch völlig unterschiedlich argumentiert. Mal war nur eine Winterbauplane zur Hand, und die Folienverpackung wurde quasi als „Versehen“ dargestellt.
Mal bestritt Eigentümer Wulff Christmann von der Christmann Unternehmensgruppe vor den Richtern des Amtsgerichtes Mitte jede Entmietungsabsicht: „Mein primäres Interesse besteht darin, die Mieter zu behalten“ – eine Äußerung, die Prozeßbeobachter als „taktischen Zynismus“ beschrieben.
Schleppende Bautätigkeit
Aufgrund der völlig überhöhten Mietankündigungen der Investoren und der Mieterproteste hat das Bezirksamt Pankow zeitweilig einen Baustopp verhängt und Gutachten nachgefordert. Immerhin: den Putz abschlagen und Schäden sanieren wäre möglich.
Arbeiter sind jedoch selten auf dem Gerüst. Wenn sie erscheinen, dann höchstens zu dritt.
Die in den Modernisierungankündigungen angekündigte Standzeit des Gerüstes ist schon erheblich überschritten. Das Abschlagen des Putzes erfordert normalerweise ein Schutznetz, das winddurchlässig ist, und nur kurzzeitig vor dem Gerüst hängt.
Bei fachgerechten Fassadensanierungen dauert die Fertigstellung in der Regel nur etwa vier Wochen. Die Christmann-Gruppe bastelt dagegen mit osteuropäischen Aushilfsarbeitern an der Fassade herum, und hat bisher keine professionelle Bauabwicklung erkennen lassen. Außer den Bauschildern der Gerüstbaufirma und des Wachdienstes ist kein Firmenschild zu sehen.
Nur bei der Stellung des Gerüstes und der Anbringung der Plane hat man professionell übertrieben, und das Gebäude in einer Weise abgedichtet, wie es üblicherweise bei Sandstrahlarbeiten und Brückensanierungen üblich ist.
Anhaltender Ausnahmezustand und fehlende Fachaufsicht
Die 29 Erwachsenen und 16 kleinen Bewohner des Hauses befinden sich seit Monaten im Ausnahmezustand. Tags kein Tageslicht, nachts extreme Flattergeräusche der Plane, die ein Durchschlafen verhindert. Dazu gibt es eine erhöhte Einbruchsgefahr, weil herumkletternde Einbrecher hinter der Plane auf dem Gerüst unsichtbar für Nachbarn sind.
Fachaufsichtsbeschwerde an den Landesbranddirektor der Berliner Feuerwehr
Der Hinweis und die Fachaufsichtsbeschwerde beim Landesbranddirektor Dipl.-Ing. Wilfried Gräfling der Berliner Feuerwehr, blieb ohne inhaltliche Stellungnahme. Die Beschwerde wurde mit ein paar Kreuzchen auf einem Formblatt beantwortet, in dem auf die zuständige Bauaufsicht des Bezirks Pankow verwiesen wurde. Das Schreiben ging bereits Ende Mai dort ein.
Eine gleichlautende Fachaufsichtsbeschwerde an den Leiter des Landesamt für Arbeitsschutz und technische Sicherheit. Dr. Rath, wurde in ähnlicher Weise beantwortet.
Ohne inhaltliche Stellungnahme leiteten beide Behörden den Fall an die zuständige Bauaufsicht in Pankow weiter, und dies, obwohl im konkreten Fall schwerwiegende Bedenken zur Gefährdung im Brandfall vorgetragen wurden, und um Stellungnahme gebeten wurde, ob hier ein Präzedenzfall vorliegt. Konkret: bei einem Wohnungsbrand könnte die Feuerwehr den Brandort nicht sofort sehen, zudem könnte sich Rauch hinter der Plane ausbreiten, und Mieter in allen Nachbarwohnungen durch Brandrauch gefährden.
Berlin oberster Brandschützer hat quasi „gekniffen“, und den schwarzen Peter an die zuständige Bauaufsicht verwiesen. Besonders gravierend, die Berliner Feuerwehr bedankte sich für die eingegangene Fachaufsichtsbeschwerde, fühlt sich leider für diesen Fall von Brand Prävention auch nicht zuständig. Nicht ein einziger Vertreter der Berliner Feuerwehr war bereit, diesen Fall inhaltlich zu behandeln, und eine lange Liste namentlich verantwortlicher Feuerwehrleute hat nicht reagiert (Namen der Redaktion bekannt).
Heute am Freitag dem 13.6.2014 – dem Tag des Rauchmelders, bekommt das Problem noch eine ganz besondere Note, weil der Berliner Brandschutzdirektor und die Berliner Feuerwehr für die Brandprävention werben.
Schwarzer Peter beim Pankower Baustadtrat
Zuständig für die Bauaufsicht in Pankow ist Jens-Holger Kirchner (Bündnis 90/Grüne), der sich erst kürzlich in einem Hintergrundgespräch über die unzureichende Personalausstattung der Bauaufsicht geäußert hat. Bei über 100 gleichlaufenden Baugenehmigungen und Baustellen hat der Bezirk Pankow nur einen Bauläufer. Offensichtlich ist das zu wenig, um irgendeine wirksame Kontrolle auszuüben.
In einem kurzen Gespräch äußerte Stadtrat Kirchner, „… dass die Bauaufsicht an dem Fall arbeitet!“.
Problem: rechtssicheres Verwaltungshandeln
Bauaufsichtlich hat Stadtrat Kirchner die volle Handlungsbefugnis, die auf einer Gefahreinschätzung nach Berliner Bauordnung beruht:
Nach §14 der Berliner Bauordnung, ist immer auch der Brandschutz zu beachten:
“Bauliche Anlagen sind so anzuordnen, zu errichten, zu ändern und instand zu halten, dass der Entstehung eines Brandes und der Ausbreitung von Feuer und Rauch (Brandausbreitung) vorgebeugt wird und bei einem Brand die Rettung von Menschen und Tieren sowie wirksame Löscharbeiten möglich sind.”
Eben diese Punkte werden nun von Mietern angemahnt, doch ist hier eine Ermessensentscheidung gefragt, gegen die der Investor im Zweifel per Gericht und Schadensersatzforderung vorgehen kann.
Die Frage bleibt noch offen, denn es ist in der Tat eine Entscheidung die auch fachlich abgewogen werden muß. Leider nicht ganz leicht, weil weder Landesbranddirektor noch der Leiter des Landesamtes für Arbeitsschutz und technische Sicherheit inhaltlich Stellung bezogen haben.
Einer der Mieter, der namentlich nicht genannt werden möchte, fragte deshalb: „Wieso werden diese Stellen vom Steuerzahler bezahlt, wenn sie im Ernstfall trotz Zuständigkeit kneifen?“
Es gibt noch Leben unter der Folienisolation
Nach Gesprächen mit einigen Mietern, die allesamt in großer Angst vor einer fristlosen Kündigung leben, fühlen diese sich auf das Äußerste bedroht. Sie fühlen sich an finstere Zeiten Deutschlands erinnert, können die Einlassungen und laxe Haltung deutscher Richter und Beamter einfach nicht erklären.
Auch ein Vergleich mit einem Folterlager wurde angesprochen, weil bei steigenden Außentemperaturen über 38 Grad Lufttemperatur hinter der Folie gemessen wurden. Das Knattern der Planen in der Nacht führt auch zu Schlafentzug und Isolation. Eltern und Kinder sind nun bis auf das Äußerste zermürbt.
Sven Fischer, einer der wenigen, der auch öffentlich auftritt, sagte: „“Wir treffen uns nun häufiger auf der Strasse und auf dem Hof, tauschen Neuigkeiten der einzelnen Gerichtsprozesse aus und treffen gemeinsame Entscheidungen über die weitere Vorgehensweise.“
Sein wichtigstes Nahziel: „für uns alle ist die Entfernung dieser menschenverachtenden Isolation der erste und wichtigste Schritt.
Als Akt der Verzweiflung haben sie gemeinsam mit Hilfe von Nachbarn aus dem Kiez ein Transparent im Innenhof angebracht, das mahnt:
Art. 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.
Mieter und „Sanierungsbetroffene ohne gesetzlichen Schutz?“
Die Mietergemeinschaft hat schon in der Vergangenheit öffentlich in der BVV-Pankow gegen die brutale Sanierungspraxis der Christmann-Gruppe protestiert. Doch der Baustadtrat mußte darauf verwiesen, dass er aufgrund seiner Zuständigkeit bei energetische Sanierungen nur begrenzt handeln kann. Hier ist der Bundesgesetzgeber gefragt.
Auch ein Gespräch mit Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) hatte im Frühjahr in Berlin stattgefunden, in dem dieser einräumte, dass der Gesetzgeber möglicherweise Fehler gemacht hat. Der Bundestag wird sich jedoch erst nach der Sommerpause mit dem Thema befassen.
Bis dahin könnte der „rechtsfreie Folienraum“ mitten in Prenzlauer Berg noch weiter bestehen – ein grausamer Präzedenzfall.
Nächste Eskalationsstufe: Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung?
Die Lage in der Kopenhagener Straße 46 wird sich in den nächsten Tagen zuspitzen. Die bisherige Untätigkeit zuständiger Behörden führt zu unabsehbaren psychischen Beeinträchtigungen, und mindestens bei den betroffenen Kindern zu schweren traumatischen Belastungen.
Ein befreundeter Rechtsanwalt prüft nun am Wochenende, ob auch Fachaufsichtsbeschwerden an den Berliner Innensenator Henkel und an Justizsenator Heitmann formuliert werden sollen, oder ob eine Strafanzeige wegen Nötigung, Freiheitsberaubung und Körperverletzung ausreichen wird. m/s
Weitere Informationen
Berlins brutalste Sanierer – 19. 03. 2014 – Pankower Allgemeine Zeitung
Graue Ostern in der Kopenhagener Str. 46 – 21. 04. 2014 – Pankower Allgemeine Zeitung
Update am 28.6.2014 – Kommentar
Die Titelzeile mit dem Wort „Baufolien-KZ“ war nicht leichtfertig formuliert. Der Begriff war in der z.T. erregten Debatte um das Haus in der Kopenhagener Str. 46 gefallen. Es gab eine Abwägung, ob dieser Begriff trotz besonderer historischer Rücksichtnahme verwendet werden soll. Angesichts der besonderen Qualität rücksichtslosen Vorgehens des Investors, erschien der Begriff als angemessen, wurde aber nach eingehenden Mails und Protesten abgeschwächt.
Die neue Qualität: quasi über Nacht werden Mieter durch Investorenabsichten in ihrer angemieten Wohnung unter wirtschaftlichen physischen und psychischen Druck gesetzt, den Wohnraum zu räumen. Erschreckender noch als das Vorgehen des Investors, ist das sich abzeichnende Versagen von Politik und Rechtsstaat.
In einem weiteren Beitrag über die Mieterverdrängung im betreffenden Haus und einem weiteren Haus in Prenzlauer Berg folgen in Kürze weitere aktuelle und Besorgnis auslösende Nachrichten. m/s
Ich bitte Sie dringend darum, die Überschrift zu ändern. Diese ist so halt- wie geschmacklos. Wie schikanös, skandalös oder gar kriminell die Handlungen eines Hauseigentümers auch seien mögen, mit einem NS-Konzentrationslager haben sie wohl nicht im Geringsten zu tun. Das spricht nicht nur den Opfern Hohn, sondern verwässert die Begriffe bis ins Unbrauchbare.
Muss mich meinem Vorredner anschließen. Bitte dringend ändern.
Solche Vergleiche vermeiden seriöse Journalist_innen aus gutem Grund. Dieser hier scheint wenig Verständnis für die politische und emotionale Bedeutung der Abkürzung KZ zu haben. Völlig daneben!
Ihr braucht Aufmerksamkeit und Klicks. Das ist bei den Medien Tagesgeschäft, okay. Aber „Baufolien-KZ“ ist höchst geschichtsrelativistisch – damit verhöhnt Ihr die Opfer von Konzentrationslagern im Dritten Reich. Bitte ändert diese Bezeichnung, ob Zitat oder nicht. Das geht gar nicht.
Ich denke, dass alle KZ-Opfer anstatt in Buchenwald, Theresienstadt oder in Bergen-Belsen zu sterben, lieber mit den Bewohnern der Kopenhagenerstr. 46 gewechselt hätten. Mit anderen Worten, wie blöd muss man eigentlich sein, um so eine Überschrift sich auszudenken??
Im übrigen, diese Mieter-Opfer mit angeschlossener PR-Agentur und ihrem Grundrecht auf billig-Miete gehen mir mächtig auf den Geist.
Anmerkung der Redaktion:
Die Formulierung “Baufolien-KZ” in Prenzlauer Berg wurde nicht ausgedacht, oder leichtfertig gewählt, sondern entstammt einer Wortwahl in einer Diskussion mit Betroffenen und Anliegern.
Aufgrund von Angst und Beklemmung und angesichts der Umstände des Vorgehens der Investoren gegen die Mieter war die Wortwahl in höchster Not getroffen.
Im Nachhinein angestellte historischen Projektionen sind im vorliegenden Fall als
unangemessen zu betrachten. m/s