/// Kolumne /// Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel holt wieder eine uralte Idee aus der EU-Mottenkiste: den rund ein Vierteljahrhundert alten Satz vom „Europa der zwei Geschwindigkeiten“. Damit es nicht wieder nach den für die EU desaströsen Jahren ihrer Kanzlerschaft nach deutschen Führungsanspruch und exCathedra-Politik aussieht, wählt Merkel abgemilderte Formeln von „verschiedenen“ oder „unterschiedlichen“ Geschwindigkeiten, nach denen Europa ausgebaut werden könne.
Uralte Konzepte einer überholten Ära
Die Vorschläge eines Europa der zwei Geschwindigkeiten innerhalb EU gehen auf die 1980er Jahre im vorigen Jahrhundert zurück. Bei anstehenden Reformen des EU-Vertrags taucht die Denkfigur immer wieder in den Wirtschaftsrubriken der Medien auf.
Tatsächlich wurden einige Ideen auch umgesetzt: im Schengener Abkommen, das den südlichen EU-Ländern fatale Lasten bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise auferlegt hat – bis man sich endlich auf ein Europa mit einem „gemeinsamen Außengrenzen-Schutz“ Frontex geeinigt hat.
Auch in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und dem Abkommen über die Sozialpolitik (Sozialprotokoll), an denen jeweils nicht alle EU-Mitgliedstaaten beteiligt sind, kommt die Idee unterschiedlicher Geschwindigkeiten zum Tragen.
Weder Finanzpolitikern noch Wirtschaftspolitikern oder gar der wissenschaftlichen Ökonomie ist dabei aufgefallen, dass gleichmässige „Drei-Prozent-Verschuldungskriterien“ auf lange Sicht zu einem Auseinanderfriften der starken und schwachen EU-Länder führen.
Ein großer Teil der EU-Politik und der Pläne der EU-Kommission beruht daher auf politischen Formel-Kompromissen und Interessen-Diskussionen, statt auf volkswirtschaftliche Fakten zu bauen, und auf Unterschiede Rücksicht zu nehmen.
Finanzwirtschaftlicher Fiktionalismus und volkswirtschaftliche Rabulistik
Weite Teile der EU-Politik sind am Ende nicht mehr als unhinterfragte „volkswirtschaftliche Rabulistik“. Längst entwickeln sich negative Effekte und wachsende Disparitäten als Folge unzureichender Politik und verbreiteten Attentismus.
Die Austeritätspolitik der EU und die Bankenrettungspolitik ignorieren realwirtschaftliche Potentiale und existierende Wachstumsmöglichkeiten. Mit nicht mehr als „abstrakter Finanzmathemathematik“, auch mit fehlerhaften EXCEL-Tebellenkalkulationen wird Politik gemacht. Mit methodisch nicht abgesicherten finanzmathematischen Annahmen und Markt- und Zinsspekulationen wird die Zukunft einer ganzen Generation in Europa verspielt.
Es macht zum Beispiel keinen Sinn, wenn die EZB Kredite nur oberhalb 10 Mio. € an Finanzierungsinstitute mit Bonität ausleiht, die keine Kleinprojekte und Gründerprogramme mehr finanzieren, weil sie die notwendige Kredit-Sachbearbeitung abgeschafft haben, Auflagen der Bankenregulierung einzuhalten. Wegen zu geringer Skalierung, zu hohen Risiken und zu hoher Eigenkapitalbindung haben Banken sich längst aus konjunkturförderlichen Kreditgeschäften zurückgezogen.
Eine fundierte und ausreichende volkswirtschaftliche Programm-Grundlage für eine moderne und den internationalen Herausfordungen angemessene Wirtschafts-Reformpolitik fehlt heute in Europa.
Rational gesteuerte EU-Wirtschaftsreform-Politik müsste sich an wirtschaftlichen Indikatoren ausrichten, Disparitäten und Strukturschwächen abbauen. Arbeitslosigkeit, Wettbewerbsschwächen und strukturbildende und wertschöpfende Investitions-Bedarfe müssten Maßstab für Investitionprogramme werden. Lokale Eigenkapital-Bildung und lokale Wertschöpfung müssen gefördert werden – nicht der Mittelabfluß durch Zinsen, Lizensierungen und Provisionen.
Das desaströse Ergebnis der Merkel-Schulz-Juncker-Ära: EU-Markt schrumpft um 100 Mio. Menschen
Das Versagen der EU-Politik hat ein historisch einmaliges Ausmaß erreicht: seit zwei Dekaden nimmt man angesichts wachsender Weltmarktkonkurrenz hin, dass rund 45 Mio. Menschen in Europa arbeits- und erwerbslos sind. Auf dem Balkan lässt man den Rücksturz in eine vergangene Ära von Korruption, Nationalismus und neuen Oligarchentum zu.
Und man treibt die Briten mit ideologischer Borniertheit zu einem Brexit, bei dem weitere 65 Mio. britische Europäer die EU verlassen.
Als desaströses Ergebnis der „Merkel-Schulz-Juncker-Ära“ schrumpft der europäische Markt um ein Fünftel seiner Bevölkerung. Nur die beiden Weltkriege und die Pest im 14. Jahrhundert haben die europäische Zivilisation in ähnlich schrecklichen Dimensionen geschädigt.
Vom Europa der strategischen Visionen zum Europa der politischen Fiktionen
Die politischen Konstruktionen der EU beruhen heute zu einem guten Teil auf Ergebnissen und Dialektik politischer Streitgespräche und finanzpolitischer Glaubenslehren, nicht aber auf weltwirtschaftlich und volkswirtschaftlich gegründete Fakten, Optimierungsstrategien und Konvergenz-Politiken.
Ideologen, Politologen, Lobbyisten und Rechtsexperten bestimmen zerstückelte Leitlinien der EU-Politik. Es gibt kein Primat volkswirtschaftlicher Vernunft in der Wirtschafts- und Energiepolitik.
Im aktuellen „Commission Work Programme 2017 Delivering a Europe that protects, empowers and defends“ von Oktober 2016 wird in einer selbstreferentiellen und realitätsentrückten Sprache von politischen Arbeitszielen gesprochen:
„A Commission focussed on the important things…
From the start of our mandate, this Commission has set its priorities to focus on the big things, where effective European action can make a concrete difference in addressing the challenges facing Europe’s citizens, our Member States and the Union as a whole. Over the last year we have made solid progress in implementing the strategies we have set out in the Investment Plan for Europe, the Digital Single Market, the Energy Union, the European Agenda on Security, the European Agenda on Migration, the Capital Markets Union, the Action Plan for Fair and Efficient Corporate Taxation, the new Trade Strategy, the Steps towards completing Economic and Monetary Union, the Single Market Strategy, and the Action Plan for the Circular Economy.“
Es sind politische Begrifflichkeiten eines „inneren Kreises“, der die vor 60 Jahren in den römischen Verträgen angelegten Visionen nicht weiter vollenden kann, und in komplexen Debatten ein „Europa der politischen Fiktionen“ bearbeitet.
Management statt Plan – Prioritäten statt geplante Realitäten
In der Energiepolitik werden Energiekosten auf ein Maß verteuert, das Europa insgesamt als Produktionsstandort von der Weltkarte tilgen wird. In der digitalen Revolution der Volkswirtschaften gibt es kein europäisches Konzept. Industrie 4.0 ist zwar in den Technologien Weltspitze, aber bei Systemprojekten und Großprojekten überlässt man anderen die Investition, die Projektführung und den absehbaren volkswirtschaftlichen Longtail der Wertschöpfung.
Sogar das europäisches Sozialmodell ist nicht mehr nachhaltig, weil in den Metropolen der Faktor Wohnen inzwischen derart verteuert wird, dass der Faktor „Arbeitseinkommen“ bei einfachen Arbeitnehmern praktisch aufgezehrt wird. An Essen, Rente und Krankenversicherung ist dabei noch gar nicht gedacht!
Es gibt keinen großen Plan, und auch kein Konzept und keine europäische Antwort auf die chinesische Seidenstraßen-Initiative, die künftig alle Transportkosten und Terms of Trade in der eurasischen globalen Zusammenarbeit bestimmen wird.
Die Europäische Kommission und die europäischen Regierungschefs, einschließlich Bundeskanzlerin Angela Merkel befinden sich abgehoben im „abstrakten Programm-Raum“, unfähig mit Maßnahmen, Iniativen unterhalb der Gesetzesebene und im vorhandenen Instrumentarium volkswirtschaftliche Realitäten zu verändern.
Nur in der Flüchtlingspolitik und Sicherheitpolitik bereitet man sich gerade auf eine harte und teure Landung in den Realitäten vor, und verrät all die europäischen Werte, die nun infolge lange abgehobenen Regierens zu „Fiktionen“ werden.
Wie wird die Europapolitik wieder realitätstauglich?
Statt politischer Formeln vom „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ sollten im künftigen „Yachtclub Europa“ realitätsuntaugliche Begriffslehren und Rhetoriken über Bord geworfen werden. Statt Sprechakten und Formelkompromissen ist volkswirtschaftliche Rechenarbeit angesagt.
Um im Bild zu bleiben: es ist nicht komplizierter als die Regel, die jede Regattaleitung anwenden kann, egal wie der Wind steht.
Der Engländer Zillwood Milledge hat ein Berechnungssystem für Segelregatten entwickelt, das eine gerechte Leistungsbewertung völlig unterschiedlicher Jollen oder Yachten unterschiedlicher Bauform erlaubt, die in einer Regatta gegeneinander antreten.
Jeder Bootsklasse wird dabei eine empirisch ermittelte „Yardstickzahl“ (nach Yard-Stock, aus dem engl. abgeleitet von Elle) zugeordnet, die die Leistungsfähigkeit des Bootes widerspiegelt. Bei einer gemeinsamen Regatta wird für alle Teilnehmer die gesegelte Zeit gemessen und mit der Yardstickzahl nach einer Formel umgerechnet:
///////////////////////////////// Gesegelte Zeit in Sekunden x 100
Berechnete Yardstick-Zeit = ————————————————–
///////////////////////////////// Yardstickzahl
Starten alle unterschiedlich schnellen Boote zur gleichen Zeit, wird die Platzierung am Ende mit Hilfe der Yardstickzahlen ermittelt. Niemand käme deshalb auf die Idee, langsame Boote etwa abzuwracken, nur um schneller werden zu können. Zudem sollte es immer auch Kredit geben, damit kleinere Boote in größere Yachten eingetauscht werden können.
Die beste europäische Yacht-Gemeinschaft würde zudem versuchen, mittleren Kurs und mittlere Geschwindigkeit zu fahren, und schwächeren Booten genug Wind zu belassen.
In der globalen Weltwirtschaft brauchen Staaten intelligentere volkswirtschaftliche Steuerungssysteme, die Entwicklung, Nachhaltigkeit, wirtschaftliche und soziale Stabilität auf Kurs halten. Statt fiskalischer und politischer Leitbilder wurde die Metapher vom Yachtclub Europa gewählt, weil das Segeln im Wind des weltweiten Wettbewerbs ein gutes Bild ist, welche Fähigkeiten bei der Führung von 28 Staatsschiffen gefragt sind:
Voraussicht, nautisches Geschick, Fairplay und Teamgeist an Bord, Kooperation und Respekt zwischen den Kapitänen – und die Fähigkeit, bei Gegenwind kreuzen zu können, um trotzdem Ziele zu erreichen.