Bahnlärm auf dem Berliner Innenring und auf der „Stettiner Bahn“ zwischen Buch und Nordkreuz wird immer mehr zum drängenden Pankower Umweltproblem. Der Abgeordnete Stefan Gelbhaar (MdA Bündnis 90/Grüne) hatte im November 2013 eine Kleine Anfrage im Abgeordnetenhaus gestellt, um herauszufinden, was „der Senat in Sachen Schienenverkehrslärm“ unternimmt.
Die Antwort (Drucksache 17/12 834) wurde Ende Dezember veröffentlicht. Die Antwort ist für die Pankower Anwohner der Gleisanlagen jedoch enttäuschend: es wird nur schrittweise kleine Verbesserungen geben, und bis 2020 soll der Lärm allenfalls halbiert werden. Der Hauptgrund: der Berliner Senat ist für das wichtige Thema nicht zuständig, Anwohner sind auf die Zuständigkeiten des Bundes und die Bundesgesetzgebung verwiesen, die eine schrittweise Lärmreduzierung bis 2020 zum Ziel hat.
Stettiner Bahn wird immer bedeutender
Auf der Stettiner Bahn rollt immer mehr Güterverkehr. Derzeit sind es täglich etwa 46 Güterzüge, von denen besonders Kesselwagenzüge einen infernalischen Lärm verbreiten. Die Kesselwagenzüge pendeln zwischen der Raffinerie Schwedt/Oder und den Berliner Flughäfen. Insbesondere die leeren Kesselwagen wirken wie riesige hohle Resonanzkörper, und dröhnen mit bis zu 100 dB – einem Wert, der fast dem eines startenden Düsenflugzeugs entspricht.
Die Bürgerinitiative Berlin Nord-Ost „Gesund leben an der Schiene“ e.V. (BINO) zählt einschließlich der Personenzüge und S-Bahnen täglich sogar 320 Zugbewegungen, von denen viele in der Nacht Anwohnern den Schlaf rauben.
Der Lärmteppich entlang der Bahnstrecke ist beidseits wenigstens etwa 500 Meter breit. Erst in einigem Abstand ist es möglich bei offenen Fenster durchzuschlafen. Lärmschutzwände gibt es bisher nicht. Lediglich ein kurzer Abschnitt auf Höhe der Kolonie Famos e.V. schützt die Anwohner im Florakiez.
Ab 2017 wird der Abschnitt Blankenburg – Karow für Tempo 160 ausgebaut. Erst im Zuge dieser Baumaßnahmen ist mit zusätzlichen Lärmschutzmaßnahmen zu rechnen – denn die Deutsche Bahn ist bei Bestandstrecken nicht verpflichtet, nachträglich Schallschutzwände aufzubauen.
Der Bahnverkehr wird sogar noch weiter kräftig zunehmen: bis 2020 wird die Stettiner Bahn zur europäischen Magistrale ausgebaut, eine Verdoppelung des Zugverkehrs wird erwartet, wenn die Strecke nördlich von Angermünde bis 2020 elektrifiziert und zweigleisig ausgebaut wird.
Der Güterverkehr rollt dann verstärkt auch von Polens Ostseehäfen durch Pankow.
Abhilfe nur stufenweise geplant
Der Bundesgesetzgeber setzt mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen auf Lärmschutz, doch deren Umsetzung wird erst ab 2020 nachhaltig spürbare Entlastung bringen. Diese Maßnahmen sind nach der Privatisierung der Deutschen Bahn gestaltet worden, und setzen auf einem Mix aus wirtschaftlichen Anreizen und langsamer Anpassung technischer Standards und eine schrittweise Modernisierung des Waggonbestandes.
Das im Juli 1994 eingeführte Trassenpreissystem berechnet seitdem für jede Zugfahrt in dem 34.000 Kilometer großen Schienennetz einen Preis. Das Trassenpreis-System enthält seit 2012 eine „lärmabhängige Komponente:
Am 9. Dezember 2012 trat das Lärmabhängige Trassenpreissystem (LaTPS)für Schienengüterverkehr in Kraft.
Fahrzeuge mit so genannten Flüsterbremsen sollen künftig ein niedrigeres Entgelt bezahlen, Fahrzeuge ohne derartige Bremsen ein höheres Entgelt. Dadurch soll die Lärmbelastung mittelfristig um 10 dB(A) reduziert werden. Die Erweiterung des Trassenpreissystems wird in gleichen Teilen von der Deutschen Bahn und dem Bundesverkehrsministerium finanziert.
Wagenhalter sollten für Umrüstungen, die nach dem 9. Dezember 2012 erfolgen, eine Förderung von 0,7 Cent je Achskilometer (bis zu 422 Euro je Achse) erhalten. Ab dem gleichen Zeitpunkt soll ein Zuschlag von einem Prozent auf den Trassenpreis erhoben werden, wenn ein Güterzug nicht als „leise“ eingestuft ist. Diese Einstufung hängt vom Anteil der TSI-konformen Wagen am Zug ab, der zunächst 80 Prozent beträgt und schrittweise auf 100 Prozent angehoben werden soll.
Nachdem der Internationale Eisenbahnverband die Voraussetzungen für die Zulassung der lärmarmen Bremse mit der „LL-Sohle“ zum 30. Juni 2013 geschaffen hat, wird für „laute“ Güterzüge seit 1. Juni 2013 ein einprozentiger Aufschlag auf den Trassenpreis bei Eisenbahn-Verkehrsunternehmen erhoben. Zum 1. Juni 2014 soll die lärmabhängige Trassenentgeltkomponente (LaTPS) für laute Güterzüge von 1,0 auf 1,5 Prozent angehoben werden. Danach steigt der Zuschlag für 8 Jahre sukzessive weiter an. Das schafft Anreize, in neue und lärmarme Waggons und Kesselwagen zu investieren.
Erlöse werden für die Lärmminderung eingesetzt
Die geplanten Erlösen plus Mitteln des Bundesverkehrsministeriums sollen (je zur Hälfte) bis 2020 rund 300 Millionen Euro einbringen, um ca. 180.000 Güterwagen mit leiseren Bremsen auszustatten. Die Umrüstung eines vierachsigen Güterwagens wird dabei mit bis zu 1688 Euro je Achse gefördert.
Die DB Netz plant auch, mit Inkrafttreten des Fahrplans 2021/2022 die Trassenpreise signifikant zu erhöhen, um den Auswirkungen des Zugbetriebs auf die Umwelt Rechnung zu tragen werden. Damit soll die Wirkung des bis 2020 laufenden Lärmsanierungsprogramms über den Zeitpunkt 2020 hinaus dauerhaft gesichert werden.
Sofortmaßnahmen für Pankow gefordert
Die Bürgerinitiative Berlin Nord-Ost „Gesund leben an der Schiene“ e.V. (BINO) verweist auf die Gesundheitsgefahren: „Lärm schadet der Gesundheit: Medizinische Untersuchungen zu den Auswirkungen von Lärm besagen, dass bereits durchschnittliche Lärmbelastungen von tagsüber über 65 Dezibel(A) und nachts über 55 dB(A) als gesundheitsgefährdend gelten. Von Gerichten werden mittlerweile zumindest Überschreitungen von 60 dB(A) in der Nacht (22.00 Uhr bis 6.00 Uhr) als unzumutbar anerkannt.
Die Bürgerinitiative Berlin Nord-Ost fordert daher die Umsetzung eines ganzen Maßnahmenbündels:
– Lärmdämmung der Schiene (Schienenstegdämpfer)
– Modernisierung der Wagen, speziell der Bremsen (LL-Sohle)
– einen halben Meter niedrige Schallschutzwände, die den Lärm der Räder abfangen,
– ein Nachtfahrverbot für alte Züge ohne modernisierte Bremsen,
– Schallschutzfenster.
Der zuständigen DB Netz AG mit ihrem Leiter der „Produktion Ost“, Helge Schreinert sind die Probleme auf der Stettiner Bahn bewußt. Doch er macht lediglich in einem Punkt Hoffnung: die Schienen-Verbindung „Ostsee-Mittelmeer“ werde nicht über Berlin, sondern über Posen laufen.
Ansonsten bleibt es nur bei der vorgesehenen schrittweisen Modernisierung der Güterwagen. Ca. 60. 000 DB-eigene Güterwagen sollen bis 2020 neue Bremsbeläge bekommen. Die lärmarme Bremse, die sog. LL-Sohle hat seit 2013 auch alle bahntechnischen Zulassungen, was bisher deren Einführung erschwert hat. 10 000 Wagen sollen bereits Ende 2015 damit nachgerüstet sein.
Doch es wird immer wieder gemischte Züge mit alten und neuen Waggons geben. Lärmminderungseffekte treten erst ein, wenn sog. Vollzüge mit modernisierten Waggons eingesetzt werden.
Doch auch mit modernisierten Waggons wird man oberhalb der Grenzwerte von tags 65 Dezibel(A) und nachts über 55 dB(A) liegen – bei etwa 75 dB(A).
Bahn-Lärmschutz wird Thema der Stadtplanung
Im Zusammenhang mit dem städtebaulichen Entwicklungsvorhaben „Pankower Tor“ und der geplanten Bebauung des ehemaligen Rangier- und Güterbahnhofs Pankow spielt der Lärmschutz eine wichtige Rolle.
Das geplante Möbelhaus und Einkaufszentrum sowie geplante Wohnbauten sollen dicht an der Bahnlinie gebaut werden, und reflektieren den Schall in das Wohngebiet entlang der Damerowstrasse und in den Bereich Hadlichstrasse, mit dem Standort der Caritas-Klinik Maria Heimsuchung.
Hierfür müssen innovative Lösungen gefunden werden, die über bisherige Lärmschutz-Standards hinausgehen. So müssen hier sicher auch Schienensteg-Dämpfer eingesetzt werden, die mit ca. 450 T€ pro km Gleis im Einbau zu kalkulieren sind. Für die wirksame Dämmung der zweigleisigen Strecke auf Höhe des Vorhabens „Pankower Tor“ mit 2 x 1,5 km Gleislänge werden wenigstens 1.350.000 € veranschlagt.
Der Einbau von Schienenstegdämpfern zwischen Nordkreuz und Buch (Stadtgrenze) würde wenigstens 8,1 Mio. € kosten – eine Summe, die eigentlich auch aus Ausgleichsbeiträgen und Planungswertausgleichen leicht finanzierbar wäre.
Bebauung als Lärmschutz?
Neu sind Überlegungen, am Pankower Tor Gebäude als „Lärmschutzbebauung“ auszulegen, und neue Gebäude zur Bahnlinie entsprechend auszurichten. Treppenhäuser und Versorgungstrakte werden dabei entlang der Gleise angeordnet, wärend Fenster und Balkone nach Südwesten weisen. Fassadenbegrünungen, Hecken und Bäume könnten zudem als „Schallschluck-Elemente“ geplant werden.
Derartige Bauweisen gibt es bereits in der Schweiz, in der Lärmschutz einen gesetzlich festgelegten hohen Stellenwert hat. Auf jeden Fall sind diese Bauweisen flächensparend, und würden das knappe Bauland besser ausnutzen.
Freiwillige Lärmschutzmaßnahmen, wie z. B. Lärmschutzfenster in Karow-Nord werden nicht durch die DB AG veranlasst, weil sie dazu gesetzlich nicht verpflichtet ist. Nur bei Neubaustrecken werden deshalb Lärmschutzwände gebaut. Doch hier können die Wohnungsbauinvestoren etwas tun – und bei Schulbauten ist der Bezirk in der Pflicht.
Stefan Gelbhaar will mehr Druck
Die Überlegungen, Güterzüge über den Güteraußenring fahren zu lassen, wurden in der Antwort auf die Kleine Anfrage von Stefan Gelbhaar (MdA Bündnis 90/Grüne) relativiert. Die Streckenwahl ist den Bahnbetreibern frei gestellt – und diese wählen nach dem Trassentarif die kürzeren, billigeren Strecken.
Doch Gelbhaar will bei dem Thema weiter Druck machen: „“Schon jetzt rollen viele Kesselwagen mitten durch die Stadt. Mit der Inbetriebnahme des Großflughafens werden es noch mehr werden. Daher werde ich das Thema mit Nachdruck verfolgen. Senat und Bahn dürfen sich hier nicht wegducken.“
Erste moderne Kesselwagen im Einsatz
Seit Herbst 2013 sind auch erste moderne vierachsige Kesselwagen der Schweizer WASCOSA AG im Einsatz, die über ein Eigengewicht von 23.9 Tonnen und ein zulässiges Gesamtgewicht von 90.0 Tonnen verfügen. Mit einer zugelassenen Verkehrsgeschwindigkeit leer 120 km/h / beladen 100 km/h fahren sie auch etwas schneller als die alten Kesselwagen, und verkürzen die Lärmwirkungs-Zeit.
Die neuen Kesselwagen wurden zusammen mit dem Institut für Schienenfahrzeuge der TU-Berlin entwickelt, und sind nach der neuesten „Europäischen Richtlinie über die Eisenbahnsicherheit (Richtlinie 2004/49/EG) und die ECM/EU-Verordnung 445/2011). Damit wird in Europa nunmehr die für die Instandhaltung zuständige Stelle (Entity in Charge of Maintenance – ECM) eingeführt. Die Eisenbahnen und Halter von Eisenbahnfahrzeugen sind für die Instandhaltung jedes ihrer Eisenbahnfahrzeuge zuständig (ECM). Sie können die Aufgaben der für die Instandhaltung zuständige Stelle (ECM) selber wahrnehmen oder per Vertrag auf einen Dritten übertragen.
Die wichtigste Neuerung: die Laufruhe der Fahrzeuge und das Auftreten sogenannter „Glattstellen“ auf den Radsätzen wird überwacht, und kann auch elektronisch per Vibrationsmessung kontrolliert werden. Damit wird es möglich, die Fahrzeuge auch besser instand zu halten, und für mehr Laufruhe um Betrieb zu sorgen. Erste Vorbeifahrten wurden bereits beobachtet, und die neuen Kesselwaggons sind subjektiv leiser als ihre alten, rostigen Vorgänger der VTG-Tankwagengesellschaft.
Zuständigkeiten des Bezirksamts Pankow
Für den Lärmschutz ist Bezirksstadtrat Dr. Torsten Kühne (CDU) zuständig. Gegenüber dem Berliner Kurier verwies er auf die Verantwortung des Bundes, und forderte einen „Masterplan“, … „der alle Lärmeinflüsse auf die Menschen gemeinsam berücksichtigt und nicht mehr nur die einzelnen Quellen. Daraus abgeleitet müsse der Bund ein Programmauflegen, das Zeitpläne und Prioritäten bei der Beseitigung der Lärmquellen festlegt.“
Doch der Bundesgesetzgebern hat sich bereits bis 2020 im Rahmen vorhandener Gesetze und Modelle zur Finanzierung langfristig festgelegt.
Im Rahmen der Zuständigkeiten als Umweltstadtrat müßte Dr. Kühne eigentlich auch im Rahmen der Beteiligung der Träger öffentlicher Belange bei Bebauungsplänen eine Stellungnahme zu Lärmschutzfragen abgeben. Gleichzeitig müsste bei laufenden Planungsvorhaben auch rechtzeitig ein Bedarf formuliert werden. Auch müssen sich Bürgerinnen und Bürger in Pankow fragen, warum es angesichts bekannter Entwicklungen noch keinen „Masterplan Stettiner Bahn“ gibt?
Bezirksamtskollegin Lioba Zürn-Kastantowicz war viel mutiger, und hat im Zusammenhang mit dem Vorhaben Pankower Tor einfach den Bedarf für zwei Schulen „festgeklopft“. m/s
Weitere Informationen:
Eisenbahn-Bundesamt: Zulassung Fahrzeuge
WASCOSA AG – www.wascosa.ch
Bahnlärm macht Bürger aktiv – 14. 11. 2012 – Pankower Allgemeine Zeitung
Lärmschutz per Gesetz in Deutschland! – 20. 04. 2013 – Pankower Allgemeine Zeitung