Donnerstag, 03. Oktober 2024
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Mut zur Einfachheit

Elinor Goldschmied:
Mut zur Einfachheit

Elinor Goldschmied - künstlerisch gestaltetes Namensschild von Micheline Richau

Wer war Elinor Goldschmied? Ein Name, den man künftig in Berlin öfter hören und lesen wird, wenn über Kindererziehung gesprochen wird, oder wenn neu ausgebildete ErzieherInnen Einstellungsgespräche führen. Zur Namensgebungsfeier der Klax-Fachschule für Erzieher „Elinor Goldschmied“ Berlin stellte Geschäftsführerin
Friderike Bostelmann die Erzieherin und Sozialarbeiterin in einem Festvortrag vor.

Elinor Goldschmied - künstlerisch gestaltetes Namensschild von Micheline Richau
Elinor Goldschmied - künstlerisch gestaltetes Namensschild von Micheline Richau

„Kennen Sie das? Der Schaukelsitz Deluxe mit 2 in 1 „Wunderwelt“, wahlweise auch als Modell „Tierwelt“ erhältlich. Oder wie wäre es mit dem Brillant BasicTM Musikspaß-Schlüsselbund?

Ideal fur das Baby in der Bauchlage und erhältlich bei einem namhaften Anbieter fur Kunststoff basiertes Spielzeug. Für alle Lebens- und Wetterlagen. Die Auswahl ist verführerisch! Grell leuchten die Farben, und schnell ertrinkt das junge Elternglück in den gut gemeinten Plastikgeschenken von wohlwollenden Schenkern.

Alles zum Besten des Kindes versteht sich! Frühkindliche Förderung fängt schließlich mit möglichst bunten, nach Geschlechtern getrennten, Geräusche erzeugenden Spielzeugen an! Das sehen Sie doch auch so oder nicht?!“

Friederike Bostelmann - Festrede am 26.9.2013
Friederike Bostelmann - Festrede am 26.9.2013

„Elinor Goldschmied hätte wohl laut gelacht, auch wenn ihr erster Kontakt mit Waisenkindern kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein trauriger war. Als Kind einer wohlhabenden britischen Familie wuchs sie auf dem Land auf, wo sie die Freiheit scheinbar unbegrenzter Spielmöglichkeiten genoss. Die Frage nach speziellen Spielmaterialen fur Kleinkinder stellte sich ihren Eltern am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht. In einer Zeit, die von politischem und wirtschaftlichem Umbruch geprägt war und in der die Naziherrschaft in Deutschland fur politischen, kulturellen und menschlichen Exodus verantwortlich war, entschied sich Elinor Goldschmied fur einen mutigen Schritt: Sie wurde Erzieherin. Und mit einem Stipendium der London School of Economics bildete sie sich 1937 zur Sozialarbeiterin weiter. Zusammen mit ihrem späteren Mann, Guido Goldschmied, blieb sie auch dann noch für die kommunistische Partei engagiert, als der Großteil ihrer Freunde schon aus Angst vor Verfolgung ausgetreten war.

Waisenkinder in Italien

Als Elinor Goldschmied 1946 ihren Mann nach Italien begleitete, war sie schockiert, in welchem Zustand sie die Kinder in Waisenhäusern vorfand: Sich selbst überlassen, hatten sie keinerlei Räume, in denen es sich gut spielen ließ. Und Spielzeug an sich kannten diese Kinder schon gar nicht. Aber Elinor Goldschmied, die in ihrer Kindheit vor allem ihre ländliche Umgebung zum Spielen nutzte, war erfinderisch. Sie nutzte die Materialien, die zur Verfügung standen, um den Kindern erste Sinneserfahrungen zu bieten.

Elinor Goldschmied  Foto: Montessori Center, Universität Belgorod (Russische Föderation)
Elinor Goldschmied - Foto: Montessori Center, Universität Belgorod (Russische Föderation)

Wenn Sie einmal ein Kleinkind beobachtet haben, das gedankenverloren einen BVG-Fahrschein erfühlt, erschmeckt und inständig zerknittert, dann konnen Sie nachempfinden, was Elinor Goldschmied vorhatte:

Sie ging durch die Räume des Waisenhauses und sammelte Alltagsgegenstände, die nach dem Krieg noch da waren: große und kleine Löffel, Schnüre, Wollreste, Knöpfe, Töpfe, Bürsten, Stoffreste … Mit diesen Materialien ausgestattet, konnten sich die Kinder spielerisch beschäftigen und begriffen, was Gewicht, Größe und Oberfläche sein können. Doch damit war den Kindern nur ein Stückchen weiter geholfen, denn auch ihre Betreuungspersonen wechselten ständig. Es war ihnen somit nicht möglich, eine sichere Basis anzusteuern, geschweige denn Trost und Zuspruch zu erhalten.

Mit Elda Scarzella fand Elinor Goldschmied eine Mitstreiterin für ihre Ideen, den Kindern mehr feste Bezugspersonen im Alltag zu bieten und reformierte die Kinderbetreuung in Mailand – auch gegen den Widerstand der katholischen Kirche, die bis dato unhinterfragte Distanz in dieser Angelegenheit war.

Elinor Goldschmied weitete ihre Spielidee mit Alltagsgegenständen aus und begründete das „heuristische Spiel“.

Dabei kann ein augenscheinlich simpler Gegenstand zum Objekt der Faszination werden – der Kosmos konzentriert sich in einer Bürste, die unterschiedliche Oberflächen hat, Rundungen, Borsten …

Ihre „Schatzkisten“, die „Treasure Baskets“ ermöglichen schon Babys die Erforschung ihrer Umwelt und kommen ganz ohne grelle Farben und Plastik aus.

Außerdem erkannte Elinor Goldschmied schon vor dem viel zitierten John Bowlby, dass feste Bezugspersonen Kindern eine sichere Anlaufstelle bieten. Sie sind eine emotionale Basis in vielleicht einmal hektischeren Spielsituationen und ermuntern zum Weitermachen und Ausprobieren.“

Erstes Buch

!Ihr erstes Buch, „The Child in the Nursery“, war auch das erste Buch, das sich mit der Betreuung von Krippenkindern befasste. Das war in einer Zeit, in der Kindererziehung bisher fast ausschließlich im elterlichen Haus stattfand, eine kleine Sensation.

Nach dem Tod Ihres Mannes in den 50er Jahren kehrte Elinor Goldschmied nach Großbritannien zurück und engagierte sich weiter für Londoner Kinder. Ihre Leidenschaft für frühkindliche Bildung legte sie allerdings nie ab.

Elinor Goldschmied war neben ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiterin kontinuierlich in Spanien und Italien unterwegs. Dort unterstützte sie den Aufbau und die Ausweitung von frühkindlicher Bildung und Betreuung.

Die Frage, ob sie „IMMER NOCH“ arbeite, obwohl sie doch schon im Rentenalter sei, spornte sie nur weiter an. So schrieb sie mehrere Bücher über Kinder unter drei Jahren sowie über Bezugspersonen in der Kleinkindbetreuung. Sie drehte sie acht Dokumentarfilme zum heuristischen Spiel und veröffentlichte noch mit 93 Jahren ihr letztes Buch über Krippenerziehung, bevor Sie 2009 starb.

Ihre Wissbegierde, und ihre Bereitschaft auch ständig mit jüngeren Kollegen im Austausch zu sein, haben ihr dabei stets einen breiten Blick auf die Betreuung und Erziehung von Kleinkindern ermöglicht. Alle, die mit ihr zusammengearbeitet haben, waren fasziniert von ihrer Person und ihrem Erfahrungsschatz.

Nun also Elinor Goldschmied als Namensgeberin unserer Fachschule? Ja! Denn die Ideen und Überzeugungen Elinor Goldschmieds sind eben nicht auf ihre Lebensspanne begrenzt: In einer Epoche, in der es allein bei Google 3,3 Millionen Suchtreffer zu Babyspielzeug gibt und in der pro Quadratmeter Meer 13.000 Plastikmüllteile schwimmen, erscheint das Spielen mit einem Alltagsgegenstand in seiner Einfachheit und Komplexität anrührend und genial zugleich.“

Mut zur Einfachheit

„Eine im wahrsten Sinne des Wortes nachhaltigere Methode die Welt zu begreifen scheint es nicht zu geben.

Elinor Goldschmieds Mut zur Einfachheit möchten wir weitergeben; Ihren Mut, mit scheinbar unscheinbaren Dingen ein ganzes Universum zu eröffnen, Faszination und Wissen zu erzeugen und damit frühkindliche Bildung zu ermöglichen. Wie Elinor Goldschmied versuchen wir, den Menschen, für die wir arbeiten, das Bestmögliche zu bieten. In unseren Krippen und Kitas begegnen wir den durch uns betreuten Kindern als authentische Erwachsene. Wir sind Ansprechpartner und sichere Basis.

Empathie und Respekt prägen dabei alles, was wir tun – auch das Leben und Arbeiten an unserer Fachschule.

Abstrahieren wir Elinor Goldschmieds Grundgedanken im Sinne der Heuristik, dann finden wir Teile dessen, was sie ausmacht, in jedem der Themenfelder der Erzieherausbildung wieder und können ihre Gedanken auch auf die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausweiten.

So finden Sie als Studierende auf unterschiedlichen Gedankenwegen zum Ziel und zeigen dies, indem sie sich in längeren Arbeitsphasen selbst organisieren – ob nun im Bereich der „Kommunikation und Gesellschaft“ oder in „Ökologie und Gesundheit“; und auch unser Kunstverständnis ist geprägt vom Entdecken eigener Wege und Ästhetik – Farbe und Form ist dabei etwas, was unvollständig, persönlich empfunden sein darf und sich in jeder Persönlichkeit neu entwickelt.

Soziale Theorie und Praxis

„Soziale Theorie und Praxis“ verlangt von Ihnen, aus zunächst begrenztem Wissen einen möglichst vielschichtigen Blick auf Theorien, Konzepte und Systeme erlangen.

Und auch der Bereich „Organisation, Recht und Verwaltung“ wird mithilfe Ihrer Fähigkeit zu Schlussfolgerungen schließlich überschaubar und verständlich.

Unvollständigkeit ist das, was anspornt, Wissbegierde weckt, Erkenntnis erzeugt und Sie als Lernbegleiter und Studierende unserer Fachschule eint.

Vielleicht denken Sie ja daran, wenn Sie einmal wieder den Schaukelsitz Deluxe mit 2 in 1 Wunderwelt im Regal stehen sehen, oder das Brillant BasicTM Musikspaß Schlüsselbund. Ideal für das Baby in der Bauchlage.

Friederike Bostelmann ist Geschäftsführerin der
Klax Berlin gGmbH, Arkonastraße 45–49, 13189 Berlin-Pankow

Weitere Informationen:

www.klax-online.de

Literaturhinweis:

Elinor Goldschmied, Ruth Forbes, Sonia Jackson
People Under Three
Verlag: Routledge 2003 (2. Auflage)
312 Seiten, Buch / Hardcover
ISBN/EAN: 978-0-415-30566-2
119.95 €

m/s