// Glosse // : Eine neue „Schwaben-Diskussion“ hat Wolfgang Thierse in einem Interview mit der Berliner Morgenpost kurz vor Jahresende losgetreten: «Ich ärgere mich, wenn ich beim Bäcker erfahre, dass es keine Schrippen gibt, sondern Wecken», sagte er.
«In Berlin sagt man Schrippen – daran könnten sich selbst Schwaben gewöhnen.» Der seit über 40 Jahren in Prenzlauer Berg beheimatete Wolfgang Thierse bringt damit seinen Unwillen auf den Punkt.
Auch er zählt zu der nur noch kleinen etwa 15%-igen Minderheit der Alteinwohner in Prenzlauer Berg – und hat den ästhetisch-ökonomischen Wandel rund um den Kollwitzplatz leibhaftig und krümelnd am Frühstückstisch miterlebt. Ein Wandel, der tief ins Eßverhalten eingreift, damit bis in die Eingeweide reicht, und ein ungutes Bauchgefühl auslösen muß. Das Wort „Gentrifizierung“ ist für diese komplexe Gefühlslage keine zureichende Beschreibung. Es geht um eine Kulturfrage und um ein bedrohtes Lebensgefühl!
Rund 85% der alten Wohnbevölkerung sind in den letzten 22 Jahren weggezogen oder auch verdrängt worden. Die Südspitze des Prenzlauer Berg wirkt inzwischen „stuttgarterisiert“. Nach schmucken Fassaden drängt nun die leibhaftige schwäbische Küche in die Lebenswelt vor – und führt zu „gefühlten Verdauungsbeschwerden“.
Doch wie verträgt sich Thierses bodenständiger Unwille mit der gepriesenen weltoffenheit der Hauptstadt? Ist es ein letzter Rest regionaler Selbstbehauptungswille? Oder einfach nur ein unbedachter Gefühlsausbruch? Oder die letzte Verteidigung lokaler Identität?
Was waren das noch für Zeiten, als es um die unterschiedliche Beschaffenheit von „West-Schrippe“ und „DDR-Schrippe“ ging – als die Schrippe noch als richtiges politisches Statement und Stützelement von „Ost-Biografien“ taugte? – Gut 10 Jahre ist es her!
Haben wir aber derweil nicht einen viel schlimmeren Kulturwandel übersehen?
Greifen Hartz-Aufstocker mit gründungsgeförderten Heißluft-Backautomaten in „Back-Cafés“ und ihren luftrachttransportierten kantonesischen Tiefkühl-Backlingen nicht noch viel stärker in die Frühstückskultur ein? Nehmen die Berliner die geschäftstüchtige Verwandlung der Streuselschnecke zum „klitzekleinen Streuseltaler“ an Bahnhofskiosken einfach klaglos hin?
Die neue Brötchen-Ordnung kommt heute per Franchise-Massen-Nachtlieferung über die Oder – und nur noch wenige Bäcker backen ihre Brötchen jede Nacht selbst. Jeder schwäbische Bäcker, der vor Ort frische Brötchen backt wäre heute sogar ein echter Kulturgewinn.
Es gäbe Raum für eine breite Debatte um Backwerk, Geschmack, Kultur und Bäckerhandwerk.
Was aber tun die Schwaben? Sie reagieren furchtbar berechenbar und verweisen auf ihre prallen Geldbeutel, ihre Einzahlungen in den Länderfinanzausgleich – und die eigenen wirtschaftlichen Beiträge zum wirtschaftlichen Erfolg in Berlin – und bestätigen damit die „kulturlose Rücksichtslosigkeit“ auf ungewollte Weise. Oettinger und Özdemir erweisen sich als ignorante Geldsack-Demokraten – und reden ganz am Thema vorbei.
Die Verlierer der Gentrifizierung können nun nur die Faust in der Tasche ballen – gefüllte Geldbeutel verdrängen neben realen Menschen auch ein Lebensgefühl – das lange Zeit den herzwärmenden Charme des Prenzlauer Berg ausgemacht hat.
Prenzlauer Berg verwandelt sich immer mehr zur kalten Kulisse und Status-Fiktion. Sogar schwäbische Nudelkocher setzen inzwischen zum kulinarischen Schlag auf den Mittagstisch an!
Glattgeschliffener Granit, säuberlich verlegtes Kleinpflaster, dezent elegante Schaufenster-Gestaltungen und Designer-Logos verdrängen die alte bunte Patina und die ins Stadtbild eingeprägten Lebensäußerungen weggezogener Generationen.
Neue Ordnung kehrt inzwischen ein, die Ostseite der Kollwitzstrasse könnte auch in München-Schwabing liegen – und auf der Westseite löst sich im Haus 41 zum Jahresende 2012 gerade die letzte geschäftliche Symbiose zwischen Blumenladen und Weinlokal auf. Die bunten Blumen verschwinden aus dem Strassenbild.
Auch die redseligen Bohémiens verschwinden aus dem Stadtbild, letzter Auftrittsort ist noch der Markt auf dem Kollwitzplatz, hier scheint das bunte Bild des Prenzlauer Berg noch zeitweise lebendig zu sein. Prenzlauer Berg wird nun furchtbar ordentlich – die Schrippe wird von Wolfgang Thierse in einen Stellvertreter-Krieg entsandt.
Der Kulturwandel wird von den Einen erlitten, von den Anderen genutzt. Den bodenständigen Verlierern sollte man wohl auch etwas Mitgefühl angedeihen lassen: sie wollen etwas bewahren, was auch einen unersetzlichen Eigenwert nicht nur für sie allein hat.
Es mag ein leichter Trost sein – schon vor der Völkerwanderung waren die Vorfahren der Schwaben als germanischer Stamm der Sueben hier schon einmal heimisch. Einst flohen sie wegen Nahrungsmangel in den Süden, eine Völkerwanderung, die sich nun gen Norden umzukehren scheint.
Vielleicht gibt es doch mehr Gemeinsamkeiten, als die akute Differenz im Geldbeutel ahnen lässt?
Bei Lichte betrachtet, sehen Wecken und Schrippen recht ähnlich aus – nur die Rezepturen variieren entsprechend hintergründiger handwerklicher Bäckerskunst.
Thierses Wutausbruch passt trotzdem irgendwie nicht mehr in die neue weltoffene Zeit, in der beim Bäcker auch skandinavische Rundstykke und „Bolle med rosiner“ und „uten rosiner“ verkauft werden.
Auch die Berliner selbst gewöhnen sich im Urlaub schnell an Bömmel, Rundstück oder Semmel. Und der hauptstädtische Schusterjunge hat den Weg auch in manche schwäbische Bäckerei beschritten.
Nur der berlintypische „Knüppel“ ist wohl wegen seiner hitlerdeutschen Vergangenheit zu Recht aus den Brötchentheken verschwunden.
Die Brötchen-Diskussion könnte eigentlich ganz fruchtbar werden – wenn man Frühstücks-Brötchen und regionale Identität besser respektieren lernt, und das zugehörige Lebensgefühl. Ist es nicht schön, morgens zu Frühstücken, und am Brötchen zu erkennen, wo man sich befindet? Soll man landsmannschaftliche Meinungskriege darum entfachen, und sich um die Lufthoheit an Bäckertheke und Frühstückstisch streiten?
Was haben auch drängende Probleme wie der Länderfinanzausgleich mit Backwerk zu tun? Merkt ein EU-Kommissar Oettinger, welche böse Wirkung seine Worte auslösen? Ist ihm noch der Artkel 72 des Grundgesetzes geläufig, der die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ zur Verfassungsaufgabe erklärt? Gleichwertigkeit heißt aber nicht „Gleichheit“ und „Gleichförmigkeit“ – oder „schwäbisch für Alle“.
Vielleicht sollte man die Brötchen-Diskussion in ein finanzpolitisches Momentum verwandeln und eine Neugliederung der alten Bundesrepublik nach Brötchen-Bundesländern einfordern! Ein Bundesgesetz für einen „Brötchen- und Finanzausgleich“ könnte das ganze Land zukunftfähig machen – und die regionalen Ungleichgewichte beseitigen!
Die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg werden zusammengelegt als „Bundesland Bömmel-Schrippe“. Im Norden werden Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen zum Bundesland „Rundstück“. Das Bundesland „Semmel“ wird aus den ehemaligen Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gebildet. Und im Süden und Westen gibt es das neue Bundesland „Brötchen-Weckle“, mit Nordrhein-Westfalen.Rheinland-Pfalz, Saarland und Baden-Württemberg.
Die Bäckereien und Backcafés in den jeweils unterschiedlichen Brötchen-Regionen werden zu „Brötchen-Botschaften“ – und ein neuer Brotkulturminister wacht über Toleranz, Gastfreundlichkeit und faire Backqualität! m/s