Vor genau hundert Jahren war Europa im Chaos! Schlimmer noch, als das Chaos heute in unseren Köpfen: es war Krieg, der erste ganz große und ganz schlimme Weltkrieg. In einer kleinen friedlichen Stadt in der Schweiz wurde etwas Wunderbares ausgedacht. In der Oase Schweiz herrschte vermeintlich Ruhe. In Zürich gründeten Künstler eine neue revolutionäre Bewegung in der Kunst. Am 5. Februar 1916 wurde die Idee im Cabaret Voltaire in die Welt entlassen: DaDa. Heute zum 100. Geburtstag muss all jenen Köpfen hinter dieser Idee gedankt werden: „Da, Da-Danke Zürich!“.
In Zürich weiß man schon seit langer Zeit, wie wichtig Dada für die Welt ist. Die internationale Internetseite der Stadt steht ganz im Zeichen von Dada: www.zuerich.com .
Auch das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) hat sich des Themas angenommen, richtet ein opulentes Programm unter dem Motto „Big DaDa“ aus: „Zum 100. Geburtstag begibt sich SRF Kultur auf Spurensuche – im Radio, Fernsehen und online. Denn: Dadas Geist lebt. SRF Kultur weiss wo.“ – Hier: www.srf.ch.
Was geschah an diesem Tag vor 100 Jahren?
Hugo Ball und Emmy Hennings, ein aus Deutschland emigriertes Künstlerpaar hatte gerade erst in der Zürcher Spiegelgasse1 1 die Künstlerkneipe „Voltaire“ eröffnet. Beide waren dem „Patriotismus und Krieg“ entflohen, und suchten sich als Künstler und Literaten den Lebensunterhalt zu sichern.
Die Welt war zutiefst erschrocken, Friedrich Nietzsches „Gott ist tot“ und Tristan Tzaras Satz „Die Kunst ist tot“ klebten wie Menetekel in allen Köpfen. Der Wahnsinn der Welt und des Krieges störte, zerstörte alle Gewißheiten und Ordnungen.
Doch am Abend des 5.2.1916 brach sich etwas Neues Bahn: die Kunst wird als großer Scherz erkannt. An jenem legendären Abend kam Dada in die Welt: „Ein Urschrei, der bis heute nachhallt, begleitete den Akt: „Dada, Dada, Dada!”. Tristan Tzara, Hans Arp, Hugo Ball, Emmy Hennings, Marcel Janco, Sophie Taeuber und Richard Huelsenbeck röhrten, girrten, schnalzten „Dada”. Sie tanzten, sangen und stampften „Dada”, schreiben die Veranstalter des 165 tägigen Jubiläumsfestivals www.dada100zuerich2016.ch in Zürich.
Die Bohème trug die Konfikte in den Köpfen aus, es entstand ein kreativer Druck, alte Ordnungen und Begriffe zu sprengen. Es war an der Zeit, Wort und Sinn zu sprengen, Gedankengebäude, Begriffe … . Die Grundlage entstand, für das, was wir heute als „Kultur des Performativen“ verstehen, wenn Mensch, Buchstaben, Worte und Sprache in Resonnanz und kreativen Tanz geraten.
Das Studio Marie Lusa setzt das heutige Jubiläum mit einer schwungvollen ikonenhaften Signatur in Szene. Zu schön für Dada – doch im kreativen Schwung doch wahrhaftig.
„Das Cabaret Voltaire wurde zum Melting Pot für Nationalitäten, Kunstgattungen und Stile. Dada war ultramodern, provokativ, erfinderisch und hob die Trennung von Leben und Kunst auf. Zu Beginn der zwanziger Jahre war Dada bereits ein weltumspannendes Netzwerk.“ Zürich inszeniert sich auch ein bischen selbst, ein Verein wurde eigens zwecks Durchführung des Jubiläumsfestivals gegründet, mit Markus Notter(Präsident), Peter Haerle, Jürgen Häusler. Leitung und Kuratorium obliegen Juri Steiner.
„Zürich übertreibt mal wieder“ schrieb Schweiz am Sonntag am 30.1.2016 zum Festivalstart.
Großes Echo, große Worte um Dada
„So wunderbar gaga“, titel Sven Behrisch in der ZEIT. Die Nachrichtenredaktion des DEUTSCHLANDFUNK verneigt sich tief, mit einer Dada-Nana Nachrichtenmeldung über das Bankhaus Julius Bär. Und wählt eines jener wundersamen Zitate von Hugo Ball (1927), die das Wunder Dada verklären sollten:“Mit den Tongedichten wollten wir verzichten auf eine Sprache, die verwüstet und unmöglich geworden ist durch den Journalismus. Wir müssen uns in die tiefste Alchemie des Wortes zurückziehen und selbst die Alchemie des Wortes verlassen, um so der Dichtung ihre heiligste Domäne zu bewahren.“
Deutschlandradio Kultur leistet sich einen Thementag, und gräbt einen „modernen Dadaisten“ aus: John Bock. Er setzt heute die dadaistischen Ideen in der modernen Welt fort, mit spektakulären Performances, wilden Materialschlachten, skurrilen Spracherfindungen und irrwitzigen Kostümen.
Die tageszeitung greift die Uridee von Tristan Tzara auf und bringt eine Dada-Sonderausgabe:
„Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet den Artikel aus. Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt Sie in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt gewissenhaft ab. In der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht wird Euch ähneln. Und damit seid Ihr ein unendlich Origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität.“
DaDa lebt und wirkt fort
Dada brach in einer chaotischen Zeit durch, in die Realität: als Provokation in der Kunst. Die anarchische Radikalität mit der die Protagonisten Hugo Ball und seine Mitstreiter Emmy Hennings, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Hans Arp zu Werke gingen, machte Dada über Zürich hinaus bekannt. Die kreativen Erschütterungen – und bisweilen Lachanfälle – reichten bis nach Paris, Berlin, Madrid und New York. Mehrfach erklärt und für tot erklärt, lebte DaDa doch als Impuls fort, beeinflusste auch die großen Studentenbewegungen 1968 – auch die Zürcher Jugendunruhen 1980.
Dada war eine kulturelle Sprengtechnik, die mit Worten und Szenen funktioniert. Die radikale «Destruktivität» konnte zum neuen Programm werden – und tatsächlich neue Ursinne erschaffen.
Die Kunst wurde unheilbar von Dada infiziert – wie ein Virus, der Hirne und Horizonte vergrössert, und vor allem die latente Gefahr von Lachmuskelkrampf und Irrwitz mitführt. Bis heute sind Surrealismus, Situationismus, Fluxus, Pop-Art, Aktionskunst und Performance durch Schockwellen und Vibrationen des Dada-Urknalls „inspiriert.“
Hugo Ball wollte mit seiner Dada-Sprache Neues schaffen, die alte zum Stellungs-Kampffeld gewordene Sprache überwinden, in der Worte wie «Krieg» oder «Ungerechtigkeit» ihren Platz hatten. Raum schaffen für Neues. Für Radikales, Leidenschaftliches. Utopisches sollte entstehen. Balls Impuls war Ausweg aus einem nicht mehr auszuhaltenden Chaos, das aus dem Kampf alter Ordnungen im Kopf Krieg gebahr.
Gottgleich stand Ball in seinem Kostüm auf der Bühne: „«Ich hatte mir dazu ein Kostüm konstruiert. Meine Beine standen in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, so dass ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und aussen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, dass ich ihn durch ein Heben und Senken der Ellenbogen flügelartig bewegen konnte. Dazu einen zylinderartigen, hohen, weiss und blau gestreiften Schamanenhut.»
Wenn heute Künstler in Zürich das alte Gedicht lesen, dann hat es auch heilsame Wirkungen, denn wir selbst haben heute Chaos, und eine nicht enden wollende Karawane vor der Tür.
DaDa könnte heilsam sein, unsere sinnlos werdenden Worte zu bekämpfen: „Flüchtlinge“, „Fluchtursachenbekämpfung“, „Obergrenzen“, „Tageskontingente“, „Außengrenzen“, „Notunterkünfte“ … ein unlösbares Chaos liegt in den Worten selbst. Wortakrobatische und bürokratische Verschleierung. Erst wenn diese Worte zersprengt sind, kann aus den DaDa-Trümmern neu gebaut werden.
Dada könnte sich noch als lebensnotwendig erweisen – und ist nicht tot!
Dada lebt! Es geht weiter im digitalen Raum. Anita Hugi und David Dufresne zeigen ihre Webdokumentation «Dada-Data». Es ist eine neue und moderne Liebeserklärung.
Vom 5.2. bis zum 4.3. wird an jedem Freitag eine neue Dada-Übung auf «Dada-Data» freigeschaltet – eine sogenannte Hacktion. Das Wort Hacktion ist eine Mischung aus Hacken und Aktion. Eine Hacktion ist somit eine Einladung kreativ zu werden, die Bühne zu betreten. Die Bühne ist in diesem Fall eine Webseite – eine Simulation.
Aber mit Simulationen können wir die Welt hacken – eine Neue erschaffen! – „Da, Da-Danke Zürich!“