/// Kommentar /// – Noch 72 Tage – dann gilt der gesetzliche Mindestlohn. Vom Friseur bis zum Gaststättenbetrieb bereitet sich die Wirtschaft auf die Einhaltung des gesetzlichen Mindestlohns vor. Die SPD und die Gewerkschaften haben sich das Thema zum Leitprojekt der großen Koalition gemacht. Doch es gelten viele Ausnahmen.
Der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro soll zum 1. Januar 2015 eingeführt werden und grundsätzlich für alle Branchen und Regionen gelten. Sind in einzelnen Branchen aber Vereinbarungen getroffen worden, die unterhalb der 8,50 Euro liegen, können diese noch bis Ende 2016 fortbestehen.
Kunst und Kultur ungeregelt – vergessen!
Für Kunst und Kultur gibt es keine Regelungen – und in den laufenden und bevorstehenden Haushaltsplanungen zu den Kulturhaushalten hat der Mindestlohn nicht die erforderliche „Mindestaufmerksamkeit“. Es herrscht eine „Antragsökonomie“, die sich nicht um effektive Stundenlöhne der Antragsteller schert.
Politische Initiativen, um den Mindestlohn in Kunst, Theater und Kultur zu sichern, sind bislang nur von den Bereichen bekannt, in denen Tarifparteien zuständig sind.
Autoren, Künstler Musiker, Schauspieler und Tänzer ratlos in der Zirkuskuppel
Die Betroffenen sind nicht ausreichend organisiert, um politischen Handlungsdruck zu erzeugen. Initiativen wie „Haben und Brauchen“ und der Berufsverband Bildende Künstler e.V. organisieren lieber Theorie-Debatten, als durchschlagende politische oder gewwerkschaftsähnliche Initiativen. Lücken der Erkenntnis und ideologische Befangenheiten verhindern sinnvolle Zukunftsideen.
Der Preis freier Lebensgestaltung als Autor, Künstler oder Darsteller wird mit stiller Selbstausbeutung und prekärer Beschäftigung bezahlt.
Soweit dies auf individueller freier Entscheidung, Neigung und Talent beruht, mag es auch eine notwendige Herausforderung sein, die Risiko und Unsicherheit sogar zur Pflicht macht, bevor eine „Persona“ eine tragende ökonomische Position erarbeiten kann.
Doch in einer Kulturmetropole mit enormer Anziehungskraft gelten noch andere Gesetze, die nicht allein über Können, individuelle Kreativität, Fähigkeit und Geist entscheiden. Es hat sich längst eine „Kulturökonomie der Vielen“ etabliert.
Die Kulturstadt Berlin scheint ihre Anziehungskraft den vielen „Künstlern und Kreativen“ zu verdanken. Kunst, freie Szene und Kultur funktionieren aber längst nach dem Gesetz der großen Zahl als „Schwarmökonomie“, in der der Einzelne kaum zählt, zur Geltung kommt.
Aus der Perspektive des Einzelnen trägt die Kunst die Stadt – aber 5.000 Bildende Künstler verkaufen keine Kunst für monatlich 5 Mio. €. Monatlich rund 5.000 Kulturveranstaltungen treffen zwar auf eine relativ stabile Publikumsnachfrage, die jedoch auch viele Flops, leere Räume und freie Plätze belässt.
Doch 5.000 Bildende Künstler sorgen für monatliche Wertsteigerung, die sich im Immobilienwert niederschlägt. Ruinöse Kulturpolitik plus Großspekulation schaffen sogar 275%-ige Wertsteigerung in 20 Jahren – wenn alle Beteiligten nur lange genug hartnäckig Positionen verteidigen – wie am Kunsthaus Tacheles. 7,5 Mio. € pro Spekulationsjahr.
Längst gelten in einzelnen Bereichen von Kunst, Darstellender Kunst, Literatur und Musik die Gesetze von Überproduktion, Bilderflut und Überflutung der Wahrnehmung des Publikums. Die Dividende kommt aber nicht bei den Akteuren an.
Nicht nur die Akteure selbst, sondern auch die Politik sind ratlos. Jeder regulierende Eingriff wäre ein Eingriff in Kunstfreiheit, individuelle Freiheit und freie Lebensgestaltung.
Das Dilemma zwischen Freiheit und Regulierung ist in einer Kulturökonomie inhärent – es ist unumgänglich. Doch eine Kulturstadt befindet sich im beständigen Prozeß des Erneuerns und Vergehens, auch den Lernens.
Was müssen Akteure und Politik lernen?
Der Mindestlohn, die Kunst und die Kultur – ein Lernprozeß?
Der Mindestlohn stellt Akteure, Politik und Gesellschaft vor eine neue Herausforderung. Ein Lernprozeß ist gefordert, der als Weg auf eine Kulturökonomie beschrieben werden kann.
Das Gesetz der großen Zahl, die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien, die weitgehende Gestaltbarkeit der Internettechnologien und die Gesetze von Kunst, Markt und Exklusivität eröffnen ein unendlich großes Lernfeld, das ohne ideologische Vorbehalte zu erkunden und zu erobern ist.
Lohnt es, sich selbst zu vermarkten? Verbrennt der Künstler damit seine Biografie? Wie wird Aufmerksamkeit erzeugt? Durch Mittler, Kuratoren oder Agenten? – Oder braucht es nur Geduld und Spitzenleistung? Oder Förderung, Sponsoren und private Lobbys?
Oder muß die große Alma Mater der Staates und ihrer Kulturinstitutionen nur ein größeres Füllhorn bereit halten?
Die Kulturökonomie der Metropole ist altbekannt, aber hält heute technisch und medial völlig neue Herausforderungen und Fragestellungen bereit.
Lektion Mindestlohn – erste konkrete Lernprozesse
Erste Theater entlassen zum Jahresende ihre Praktikanten – sie würden mit Mindestlohnbezahlung mehr verdienen, als die Darsteller auf der Bühne. Am Ende werden Schauspieler selbst Hand anlegen, als Handwerker, als Helfer und als dienstbare Geister, die selbst im Theater Hand anlegen – damit überhaupt ein Betrieb aufrecht erhalten werden kann.
Ein wünschenswerter Zustand – sicher nicht!
In Galerien drücken die hohen Mieten. Viele Galerien nehmen sogar Geld, viel Geld von Künstlern, um eine Hängung zu ermöglichen. 800 € pro Wandmeter sind bekannt. Es gibt aber auch 10-€ Flatrate im Galerie-Café.
Als Schau- und Marktplätze sind Galerien und Projekträume unerläßlich, um Kunst erlebbar und kommunizierbar zu machen. Auch hier gilt: Vermieter und Handwerker verdienen mehr Geld, als Künstler und viele Galeristen und Kuratoren. Ein großer Teil der Kunst wird zudem in Berlin zu „Ausbildungszwecken“ und als „erste Künstler-Referenz“ gestaltet. Eltern und Großeltern finanzieren so manche Vernissage und Ausstellung. Daneben treten Facebook-Beziehungsökonomien, die von Getränkeausschank, Party und aus individueller Eitelkeit finanziert werden – auch Kunst als Statusfinanzierung und kreative Selbstinszenierung.
Die Ausbildung junger Tänzer läuft längst zweigleisig: Tanztraining und Abitur führen zu einer besonderen Karriere, die körperliche Grenzen hat, aber in der Gesamt-Qualifikation eine dauerhafte Arbeitsbiografie ermöglicht. Zehn bis 15 Jahre trainieren, und nur etwa 10-15 Jahre Tanzkarriere – die menschliche Biologie setzt hier engste Grenzen. Nur ganz wenige Tänzer und Tänzerinnen schaffen es bis zum Choreografen und Intendanten.
Daneben agieren viele Einzelkünstler, Autoren und Musiker, die es auf vielfältigste Weise „selbsttragende Ökonomien“ zu erobern. Manchmal nur für einen Moment, ein Jahr, zwei Jahre. Manche schaffen es für eine Dekade oder eine langlebige kreative Biografie.
Viele Künstler, Autoren und Musiker erleben jedoch nur kurze Blütephasen. Die mörderische Konkurrenz des Schwarms holt auch schnell ein, überholt, sticht aus, lässt wieder in Vergessenheit geraten.
Geltung und Ruhm werden nicht in einer Generation des Publikums erlangt, sondern nur noch in Kohorten, Fankreisen und Fachkreisen. Die „Zauberkräfte selbsttragender Ökonomie“ sind zudem nicht erlernbar, sondern nur durch Erprobung zu erschließen.
Kein Wunder, wenn allzuviele ihre Bedeutung überschätzen, und wie Motten nach dem Licht streben – an dem auch Leben, Biografien verbrennen können.
Doch die Kulturökonomie der Vielen hält eine wichtige Lehre bereit:
Der Kampf um „selbsttragende ökonomische Positionen“ wird selbst zum kreativen und künstlerischen Prozeß. Das Reich der Freiheit in Kunst und Kultur kann nur durch kreative Akte mit ökonomischer Dimension erobert und gesichert werden.
Die Logik selbsttragender Ökonomien
Was macht Künstler erfolgreich – noch zu Lebzeiten? Dieser „dreiste ökonomische Anspruch“ muß auf neue Weise in der Kulturstadt untersucht werden. Wie werden Künstler mit Luxusprodukten in einem Überfluß-Markt, in der Bilderflut erfolgreich? Dieser noch verwegenere Anspruch muß heute sogar erforscht werden.
Was macht freie Theater beständig? Ist es nur Kunst, oder kunstvolle Organisation UND Kunst? Auch diese Frage stellt sich in der Kulturökonomie.
Wie können Autoren, Künstler, Musiker und Darsteller von ihren Werken und Fähigkeiten leben lernen? Für diese Frage hält die moderne Kulturstadt überwältigend viele Antworten bereit, mehr als je gelehrt werden können. Auch hier scheint nicht die „Best Practice“, sondern das unverwechselbare Experiment Bedeutung zu haben. Es gelten aber immer auch die Gesetze des Marketings, der Beziehungen und Empfehlungen, und der Distinktion.
Die Logik „selbsttragender Ökonomien“ hält in der Ökonomie der Kulturmetropole heute mannigfaltige Lernaufgaben bereit. Weder Künstler noch Künstlerverbände können in der Vielfalt gültige Strategien und Praktiken erarbeiten und weiter tragen.
Dies ist auch der Grund, weshalb eine politisch wirksame Organisation schwer fällt. Singularitäten, Freiheit der Bildenden Kunst und Politik vertragen sich auf grundsätzliche Weise nicht – wir sollten das anerkennen, um darüber hinaus zu gelangen!
Klassen selbsttragender Ökonomien
Die Ökonomie des Bildenden Künstlers ist eine Besonderheit. Der Einzelfall, die Singularität, der „scharze Schwan“, die extreme Unwahrscheinlichkeit einer Idee tragen die Bildende Kunst.
Ein „gesellschaftlich geduldeter Mindestlohn-Künstler“ wäre ein „unmögliches soziales Konstrukt“, das in äußerer Abhängigkeit keine Freiheit in der Bildenden Kunst entfalten kann. Der Bildende Künstler, Maler und Bildhauer müssen frei sein.
Die Ökonomie des Bildenden Künstlers benötigt vor allem Raum, Zeit – und existenzielle Grundsicherung, um sich entfalten zu können. Der Kampf um Atelierraum und Projekträume ist daher so wichtig geworden.
Für Opernsänger, Schauspieler, Tänzer und Musiker gelten jedoch auch andere Gesetze: sie streben zu einem großen Teil geradezu nach staatlicher Anerkennung, weil sie auf Inszenierung, Organisation und Zusammenspiel angewiesen sind.
Als Individuen schaffen sie es nur in Auswahlgremien. Die Kunst muß gemeinsam im Theater, in der Oper, im Orchester, in einer Tanzcompagnie oder in einer Band entfaltet werden. Die notwendigen umfangreichen Ressourcen können fast nur durch staatliche Förderung ermöglicht werden.
Daneben gelten die Gesetze von Applaus, Geltung und Ruhm, die wie ein Filament an Emotionen und Resonanz mit dem Publikum hängen – und auch an medialer Inszenierung.
Autoren und Musiker streben nach „industrieller Verwertung“ – sie wollen möglichst viele Bücher, viele CD´s und Downloads verkaufen. Die selbsttragende Ökonomie von Autoren fängt bei 5.000 bis 10.000 verkauften Buchtiteln an, bei Musikern müssen es schon hohe fünfstellige und sechsstellige Verkaufszahlen sein. TV-Rechte und Filmrechte legen eine weitere ökonomische Schicht über die industrielle Wertschöpfung, die als Prämien auf erarbeitete Popularität und Ruhm winken.
Faszinierend ist die selbstragende Ökonomie von Konzert- und Veranstaltungsorten, Bühnen und Theatern, weil sie zumeist über gastronomische Betriebe abgesichert werden.
Raumqualität, Programmplanung, Mythos des Ortes, Organisation und Attraktivität und Anziehungskraft für Zielgruppen sind hier das „kulturelle Kapital“ – bis hin zur kulinarischen Qualität der Gastronomie.
Selbsttragende Veranstaltungsorte sind heute die seltenen „Kirchen und Kathedralen“ der Kulturökonomie. Sie funktionieren arbeitsteilig, und bieten „gute Arbeit“ – die künftig „Mindestlohn“ garantieren soll und muß.
Freie Theater mit unregelmässigen Spielbetrieb, Bühnen mit Gastensembles und kleine Spielstätten geraten aber mit dem Mindestlohn besonders unter Druck.
Sinkende Qualität kostet zahlende Zuschauer – und bezahlten Produktionen werden risikoreicher. Vermietung, Verdichtung des Spielbetriebes und Verbesserung der Einnahmen führen nicht mehr automatisch zu Mehreinnahmen, weil alle Angebote eng mit Lohnkosten verbunden sind. Ein harter Ausleseprozeß wird erwartet – es muß dringend etwas getan werden, weil jede Spielstätte auch ein erarbeites Kulturkapital und symbolisches Kapital birgt, das mit oft geringen Mitteln ausbaufähig ist.
Kulturökonomie als Ausweg?
In der Kulturmetropole haben sich neben den rein staatlich geförderten Kulturinstitutionen viele „selbsttragende Strukturen“ herausgebildet. Die Fähigkeit, selbstständig neue finanzielle Ressourcen zu beantragen, oder zu schaffen, ist jedoch unterschiedlich ausgeprägt.
Vereine und Stiftungen tragen Museen und Galerien, und sind oft unabhängig von staatlicher Förderung. Viele Kulturorte und Institutionen verwenden eine beachtliche Kreativität, um an immer neue staatliche Mittel zu gelangen. Auch dies ist eine Form eigener ökonomischer Tragfähigkeit.
Bühnen, Theater und Konzerthallen mit funktionierender Gastronomie sind die wirtschaftlich stabilsten Kulturorte, weil sie auf Arbeitsteilung fußen, und wirtschaftliche Synergien erzeugen können.
Die Kulturpolitik ist heute gehalten, den Mindestlohn in Kulturbetrieben abzusichern – und muß dabei doch auch gezielt und sparsam handeln. Eine Stärkung selbsttragender Strukturen scheint ein sicherer guter Weg zu sein, weil sich die positiven Effekte jeweils für Publikum und Akteure in „guter Arbeit“ und „Attraktion“ auszahlen.
Staatliche Grundsicherungen können damit zugleich direkt entlastet werden.
Anders ist es mit der Kulturökonomie des künstlerischen und kreativen Individuums: Bildende Künstler, individuell schöpferisch tätige Autoren und Solisten sind in der Kulturstadt vor neue und besondere Herausforderungen gestellt, die ihre Fähigkeiten als einzelne „Persona“ schnell übersteigen:
Digitalisierung, Selbstmarketing und soziale Netzwerkbildung rauben Zeit, Kraft und Kapital – die Schwelle zum Publikum muß teuer erarbeitet und erkauft werden.
Um sich erfolgreich zu organisieren, benötigen sie Dienste, Zulieferer, Mittler Agenturen – die ihrerseits Mindestlohn zahlen müssen – und bei Erfolg auch zahlen können. Dies verteuert die Aufwendungen für alle individuell schöpferischen Akteure ganz enorm. Hier muß die Kulturpolitik künftig mehr tun – um den Aufbau „selbsttragender Biografien“ zu ermöglichen, zu flankieren.
Ein Recht auf „Atelier“ und „Projektraum“ wäre für Bildende Künstler eine notwendige Basis. Für Autoren ist ein Zugang zu einem digitalen Markt essentiell.
Die Kulturökonomie der Kulturstadt mußdie „Kultur-Dividende“ neu verhandeln – denn in Berlin tragen Kunst und Kultur neben der Kultur- und Kreativwirtschaft mit ihren 11 Branchen zum Wohlstand bei. Ein Teil der Kultur-Dividende muß für Mindestlöhne in den Kulturbetrieben eingesetzt werden – ein anderer Teil für die Existenzsicherung „freier Akteure und von freier Szene“.
Die Frage lautet, ob wir uns als Stadt nicht neben dem Naturschutz auch einen „Kulturschutz“ und eine „Kulturentwicklung“ leisten können – sogar müssen? Freiheit – Kunst – Kultur sind längst über ihren Selbstzweck hinaus etwas wert – und sorgen auch für eine selbsterneuernde Attraktivität der Metropole Berlin!
Mehr ökonomische Kreativität in der Kultur und Finanzierung von Kunst und Kultur – diese Forderung muss erhoben werden!
Thema: Wie kommt der Mindestlohn in Kunst, Theater und Kultur
Die Redaktion der Pankower Allgemeine Zeitung sammelt Beispiele, wie sich die Einführung des Mindestlohns in der Kulturszene auswirkt, welche Probleme und Friktionen auf Kulturbetriebe zukommen – und bringt Beispiele, wie sich „gute Arbeit“ besser organisieren lässt: Von Ausstellungs-Flatrate und Ausstellungshonorar bis zur Zugangsgebühr und Zusatzeinnahmen.