Der Kinderschutzfall der kleinen Emilia aus Pankow beschäftigt Kinderschutz- und Jugendschutzexperten, und die Politik. Bereits am 8. Juli 2014 wurde die schwere Mißhandlung des Säuglings durch eine Kinderschutzmeldung der Charite Kinderambulanz bekannt.
Emilia war damals gerade fünf Wochen alt. Der Vater wurde im Juli von der Polizei festgenommen, und später gegen Auflagen wieder frei gelassen. Aus heutiger Sicht war dies ein schwerer Fehler, dann am 24.November 2014 wurde eine erneute Mißhandlung des nun sechs Monate alten Säuglings gemeldet.
Sechs Monate alter Säugling auf intensivmedizinischer Station
Über die erneute Aufnahme des nun sechs Monate alten Säuglings auf die Intensivmedizinische Station der Charité wurde das Jugendamt Pankow vom Landeskriminalamt (LKA) am 24. November 2014 informiert. Die Verletzungen des Kindes deuten auf Misshandlungen hin. Die Staatsanwaltschaft ermittelt erneut gegen die Eltern des Kindes.
Das Jugendamt Pankow und die zuständige Stadträtin Christine Klein (Die Linke) beeilten sich, in einer Presseerklärung erneut zu dem Fall Stellung zu beziehen:
„Die Familie ist im Jugendamt Pankow seit dem 8. Juli 2014 im Zusammenhang mit einer Kinderschutzmeldung der Charite bekannt. Im Zusammenhang mit den Informationen der Charite und den sofort aufgenommenen Gesprächen mit den Eltern wurde durch das Jugendamt eine Unterbringung der Mutter und des Säuglings in einer Einrichtung der Jugendhilfe nach der Klinikentlassung veranlasst. Die Eltern hatten um Unterstützung durch das Jugendamt gebeten und zeigten sich kooperativ. Die betreuende Einrichtung und das Jugendamt waren zur Entwicklung der Familie in regelmäßigem Informationsaustausch. Der Umgang der Mutter mit dem Kind wurde als zugewandt und fürsorglich beobachtet.“
Familientherapeuthische Betreuung der Familie
Tatsächlich hat das Jugendamt seine Arbeit getan, und im Rahmen seiner Zuständigkeiten und Möglichkeiten gehandelt. Weiter hieß es in der Pressemitteilung:
„In der Einrichtung fand eine familientherapeutische Begleitung der Mutter statt. Mitte September 2014 wurden Mutter und Kind mit Auflagen nach Hause entlassen. Die Kindeseltern hielten die Auflagen ein.“
Auch die in diesen Fällen übliche Vorgehensweise wurde eingehalten:
„Mit beiden Eltern wurden Vereinbarungen getroffen. Diese beinhalteten u. a. eine Familientherapeutische Beratung auch nach der Entlassung aus der Einrichtung fortzusetzen sowie regelmäßige medizinische Untersuchungen etc. durchführen zu lassen. Der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst wurde in die Betreuung aktiv integriert.
Es erfolgten unangemeldete Hausbesuche der Sozialarbeiter des Jugendamtes und der betreuenden Einrichtung sowie von Beamten der ermittelnden Behörden. Der Haushalt wurde als kindgerecht eingerichtet und organisiert beschrieben.“
Doch alle Maßnahmen haben versagt, der Vater ist erneut gewalttätig gegen sein Kleinkind geworden. Lapidar schloß die Pressemeldung des Jugendamtes Pankow: „Aktuell befindet sich das Kind in der Obhut des Jugendamtes.“ Doch längst war klar: Emilia befand sich wieder in der Kinderambulanz der Charité und wurde erneut intensivmedizinisch betreut.
Auf dem Weg der Besserung?
Die Charité gibt keine Mitteilung über den Gesundheitszustand heraus, Anfragen bei der Pressestelle blieben erfolglos. Doch aus Kreisen von Besuchern der Klinik wurde bekannt: die kleine Emilia ist mittlerweise außer unmittelbarer Lebensgefahr. Am letzten Freitag war ihr Zustand stabil. Doch ob das Kleinkind bleibende Schäden erlitten hat, wird sich erst in Wochen, wenn nicht Monaten herausstellen.
Aus medizinischen Statistiken ist bekannt: in rund 55 Prozent aller Fälle gibt es bleibende neurologische Schäden, die lebenslang fort wirken.
Lücken im System der Kleinkind-Betreuung?
Der Fall von Emilia aus Pankow wird nun auf allen Ebenen untersucht. Die Mitarbeiterinnen des Jugendamtes stehen dabei zwar in unmittelbarer Verantwortung, jedoch müssen sie auch selbst vor falscher Inanspruchnahme geschützt werden.
In der familientherapeutischen Betreuung gibt es zwar ein dichtes Netz von Zuständigkeiten und Ansprechpartnern, aber niemand kann methodisch eine „gesicherte Verhaltensprognose“ für einen „labilen und cholerischen Vater“ abgeben. Es wird immer methodische Unsicherheiten und unsichere Einschätzungen geben.
Björn Eggert, jugend- und familienpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus will nach Fehlern in der Systematik schauen: „Ich werde mir die Aktenlage mit Kinderschutzkollegen genau anschauen und prüfen, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind und ob es Fehler in der Systematik gibt“, sagte er gegenüber der Presse.
Die Vorsorgelücke besteht heute vor allem darin, dass Kleinfamilien weitgehend auf sich selbst gestellt agieren. Die Rolle der Großmutter und Großeltern ist nicht dauerhaft besetzt. Das Wissen der Generationen zur Kindererziehung wird nicht mehr weiter getragen. Die „oral History“ zur Kleinkinderziehung ist unterbrochen.
Der Staat kann nur mit „Bündnissen für Familie“ und mit Beratungs- und Betreungsangeboten helfen. Die aber kommen in der Regel zu spät, weil sie zu sehr auf „Probleme“ und „Problemgruppen“ ausgerichtet sind.
Dichtes Betreuungsnetzwerk in Pankow – aber zu wenig Vorsorge?
Berlin gibt jährlich über 560 Mio. € für die Kinder- und Jugendhilfe aus, auch im Bezirk Pankow gibt es ein dichtes und fein differenziertes Betreuungsnetzwerk, wie die Internetseite der „Kinderschutzkoordination Jugendamt Pankow“ zeigt.
Scheinbar ist alles ok – doch in der Zielgruppe zwischen 18-45 Jahren nutzen inzwischen über 81 Prozent ein Smartphone. Ob sich Eltern mit einem Smartphone bis zur Webseite der Kinderschutzkoordination „durchklicken“, ist zweifelhaft.
Auch der vorbildliche „Handlungsleitfaden zum Schutz von Kindern aus suchtbelasteten Familien“ zeigt eine beachtlichem Aufwand bei der „Nachsorge und Betreuung“, wenn Fälle gemeldet werden.
Das „Netzwerk Kinderschutz im Land Berlin und und Umsetzung in Pankow“ zeigt auf, wie sehr sich im Kinderschutz eine „Institutionen-Sicht“ etabliert hat. Nicht etwa „das Kind“, sondern das „Jugendamt“ steht im Mittelpunkt des Flußdiagramms.
Doch erst im Kita-Alter kann das ganze Instrumentarium greifen, bei Säuglingen und Kleinkindern muß der Kinderschutz auf Eltern, Nachbarn und Kinderärzte bauen. Eine Lücke, für die es scheinbar auch keine ausreichende Vorsorge und Vorsorgeinformation gibt.
Auch im neuen Pankower Familienratgeber 2015 stehen Beratungs- und Betreuungsangebote an erster Stelle, finanzielle Hilfen, und Rechtsberatung stehen vor „Frühen Hilfen“ – und „Schreikinder“ werden erst auf Seite 32 unter „Babys, die untröstliche schreien“ abgehandelt.
Immerhin: hier findet sich auch eine „Schrei-Baby-Ambulanz“ im Freizeit-Haus Weißensee, und es gibt auch eine „Koordinatorin Frühe Hilfen im Jugendamt.
Offensichtlich funktioniert das dichte Kinderschutznetz erst, wenn ein Problemfall aufscheint, oder wenn Eltern von sich aus aktiv werden. Es gibt offensichtlich im überaus teuren Gesamtsystem eine „Vorsorge-Lücke“. Die Prävention sollte besser alle künftigen Eltern ansprechen, und das Schreien des Babys als Normalfall behandeln.
„Bitte nicht schütteln!“ – diese Information sollte verbindlich alle Eltern erreichen!
Familien-Diagnose und Elternbelastungsscreening zur Kindeswohlgefährdung (EBSK)
Ob eine bessere Familiendiagnose helfen kann, um bessere Prognose-Entscheidungen zur Abwendung von Kindeswohlgefährdungen zu treffen, ist überaus unsicher. Zudem gibt es erheblichen Methodischen Aufwand, um etwa ein Elternbelastungsscreening zur Kindeswohlgefährdung nach US-Methode durchzuführen. Das EBSK in der amerikanischen Originalversion umfaßt 160 Items.
In der revidierten Form des Freiburger Persönlichkeitsinventars (FPI-R; Fahrenberg, Hampel & Selg, 1994) werden dagegen nur die konvergenten und diskriminante Validität der Belastungsskala in Bezug auf ein etabliertes Persönlichkeitsinventar von zwölf Persönlichkeitseigenschaften betrachtet:
Lebenszufriedenheit | Soziale Orientierung |Leistungsorientierung | Gehemmtheit | Erregbarkeit | Aggressivität | Beanspruchung | Körperliche Beschwerden | Gesundheitssorgen | Offenheit | Extraversion | Emotionalität – ein Muster das auch bei sorgfältiger Begutachtung immer unsichere Prognosen des künftigen Elternverhaltens hervorbringen muss und sich auf Extremfälle und Problemfamilien ausrichtet.
Prävention zum „Shaken baby syndrome (SBS)“
Das Schütteltrauma gilt als die häufigste Todesursache bei körperlicher Kindesmisshandlung und als Grund für die meisten bleibenden Behinderungen bei (Klein-)Kindern. Wichtig ist hier eine systemische Vorsorge, die sich nicht nur an „Problemfamilien“ sondern an jede junge Familie, besser noch an werdende Eltern wendet.
Das Schütteltrauma ist auch erst seit 1974 als eigenständiges Krankheitsbild erkannt worden: „Erst 1974 wurde das Krankheitsbild in rechtsmedizinischer Hinsicht wissenschaftlich vollständig beschrieben. Zuvor wurden die gestorbenen kindlichen Opfer diagnostisch und statistisch meist unter der unzutreffenden Rubrik Plötzlicher Kindstod eingeordnet und nicht weiter untersucht, die Verursacher somit nicht zur Rechenschaft gezogen. Da die inneren Blutungen, Gewebs- und Knochen-Verletzungen zumeist nicht äußerlich sichtbar sind, besteht noch heute bis heute ein großes Dunkelfeld“; schreibt der Kindermediziner Andreas Warkenthin in seiner Dissetation und der zusammenfassenden Literaturbetrachtung an der Charité Berlin im Jahr 2006.
Der Oberarzt Dr. med. Bernd Herrmann von der Kinderklinik Kassel fordert: „Aufgrund der häufig schlechten Prognose wären präventive Maßnahmen mehr als wünschenswert. Ansätze ergeben sich beispielsweise in Form von Etablierung von häuslichen Besuchs-
– und Beratungsprogrammen für Risikofamilien, der pädiatrischen Identifizierung von Schreikindern und ihrer Behandlung in so genanten Schreibabyambulanzen, als auch der Integration von aufklärenden Inhalten und Broschüren in das bestehende Vorsorgekonzept als auch öffentliche Kampagnen, wie sie vor allem in den USA verbreitet sind.“
Konzepte sind etwa www.dontshake.com und die deutsche Seite www.bitte-nicht-schuetteln.de.
Vater in Untersuchungshaft
Emilias Vater, Werner E. (25) aus Pankow sitzt jetzt in Untersuchungshaft. Erstmals hat er die kleine Emilie im Alter von fünf Wochen misshandelt. Im Juli kämpften Ärzte im Virchow-Klinikum eine Woche lang um das Leben von Emilia.
Damals wurde er festgenommen, kam aber gegen Auflagen nicht in U-Haft, sondern durfte bis zum Prozessbeginn wieder mit Emilia und deren Mutter zusammenleben.
Der Vater behauptete, er sei mit der Tochter gestürzt. Der Richter glaubt ihm jedoch kein Wort: Haftbefehl! Allerdings setzte er ihn – unter Auflagen – außer Vollzug. Begründung: Es bestand keine Fluchtgefahr, weil Werner E. Job und festen Wohnsitz hat. Er durfte in die 2,5-Zimmer-Wohnung zurückkehren, wo er mit Kindsmutter Jennifer G. (24), Emilia und zwei Hunden lebte – bis er am 22. November erneut zum Gewalttäter wurde.
Das Jugendamt Pankow kümmerte sich um die Familie. “Mutter und Kind wurden in eine Jugendhilfeeinrichtung aufgenommen”, sagte Bezirksstadträtin Christine Keil (60, Linke). “Sie ging fürsorglich mit dem Kind um. Nach positiver Einschätzung wurden sie Mitte September in den eigenen Haushalt entlassen.” Zudem schickt das Jugendamt die Eltern zur familientherapeutischen Beratung. Es gibt unangemeldete Hausbesuche. Doch die konnten Emilia nicht vor der erneuten Mißhandlung retten…
Doch erst zwei Tage später, am 24.11.2014 ruft die Mutter einen Rettungswagen. “Der Vater soll das Kind wieder geschüttelt, lebensgefährliche Verletzungen verursacht haben”, sagte Martin Steltner, Sprecher der Staatsanwaltschaft. Werner E. wird diesmal mit Handschellen abgeführt. Vorwurf: versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung und Misshandlung Schutzbefohlener. Der Haftbefehl wurde vollstreckt, U-Haft.
Emilia ist mittlerweile stabil, und wird nun hoffentlich wieder gesund!
Weitere Informationen:
Bitte nicht schütteln! | 7.12.2014 | Pankower Allgemeine Zeitung