Freitag, 06. Dezember 2024
Home > Literatur > Mark Terkessidis: Kollaboration

Mark Terkessidis: Kollaboration

Mark Terkessidis: Kollaboration

Ein Buch das genau zur rechten Zeit erscheint, einer Zeit die einen großen Wandel mit sich bringt, mit einer Zuwanderungs- und Fluchtwelle, einer Flüchtlingskrise – die gewohnte Denkweisen und Sicherheiten – und Kultur in Frage stellt. Mark Tessidis kennt sich in Kulturfragen aus. In seinem Buch „Interkultur“ hat er sich mit Kulturwandel und Migration grundlegend befasst. Er fordert:“ Wir brauchen einen neuen Kulturbegriff, einen, der nicht vor den nationalen Grenzen haltmacht, und Länder nicht als
selbstgenügsame Zentren, sondern als Knoten in einem historischen und aktuellen Beziehungsgeflecht sieht.“

Tessidis ist ein radikaler Denker: sein Begriff Interkultur beschreibt jene Politik, die – im Gegensatz zu den normativen Vorstellungen des für ihn „abgedankten“ Begriffes Integration – kulturelle Barrierefreiheit für die Individuen einer Gesellschaft der Vielheit schaffen und „institutionelle Diskriminierung“ vermeiden will. Der Idee der „Polis“ von Staatsbürgern hält er die viel lebensnähere Idee der Parapolis entgegen:

„Terkessidis sieht den Ansatz, Einwanderung als „Störfall im Normablauf“ zu betrachten als überholt an. Angesichts der sich entwickelnden, vielgliedrigen „Parapolis“ – einem urbanen Nebeneinander von mobilen, unterschiedlichen und schnelllebigen Lebensentwürfen, in dem es „keine gemeinsame Vergangenheit mehr gibt“ – plädiert er für Maßnahmen, bei denen sich viele Aufgaben nicht mehr einfach „lösen“, aber sehr wohl „gestalten“ und „managen“ lassen.

Tessidis gelingt damit auch der positive Perspektivwechsel: „Es geht nicht um geteilte Vergangenheiten, um Rückbesinnung auf verlorene Traditionen, sondern um Veränderung – um die Herstellung eines neuen interkulturellen Raumes und einer Gemeinschaft der Zukunft.

Kollaboration – ein bedeutender Gedanke, ein wegweisendes Buch

In seinem neuen Buch „Kollaboration“ erweitert Tessidis die Perpektive. Er erläutert ein grundlegendes philosophisches Konzept und fragt: „Was wäre eigentlich das ethische, also das praktisch-philosophisch handlungsbegründende Leitprinzip des Wandels in der Parapolis?“
Er leitet seine Gedanken historisch ab: „Die Entstehung der Demokratie im neuzeitlichen Europa brachte auch eine Furcht der Regierenden vor der Bevölkerung mit sich: Wenn das Volk der Souverän sein und jeder Bürger in Freiheit leben sollte, wie genau sollte dann die Zustimmung zur Regierung funktionieren und wie dafür gesorgt werden, dass nicht jeder einfach tat, was er wollte? Sicher, der Staat besaß das Gewaltmonopol, aber reiner Zwang hatte ja nichts mit Demokratie zu tun.“

Früher gab es die der Industriegesellschaft und der Maschine angepaßte Strategie. Terkessidis: „Die Lösung bestand schließlich in einer Art gesellschaftlichem Training: Die Individuen sollten sich selbst steuern. Das Leitprinzip hieß Disziplin. Eine Technik, mit deren Hilfe die Personen durch andauernde körperliche Übung und individuelle Überwachung in sogenannten Einschließungsmilieus (Familie, Schule, Militär, Fabrik, Büro, Gefängnis etc.) quasi dressiert wurden. Dabei entwickelten sie ein Gewissen, ein »Über-Ich«, welches die Überwachung dann sozusagen von innen organisierte und Schuldgefühle entstehen ließ, wenn man die Disziplin nicht einhielt.“

Kulturwandel: Kreativität und Kollaboration entfalten breite Wirkung

Terkessis wendet sich dem Prinzip Kollaboration zu: „Kollaboration hat in Kontinentaleuropa keinen guten Ruf. Die meisten Menschen denken an die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg, an Personen, die sich aus Überzeugung oder Feigheit mit dem Dritten Reich eingelassen haben. In diesem Sinne möchte sicher niemand gern ein Kollaborateur sein.“

Weiter meint Terkessidis: „Im Englischen ist der Begriff collaboration hingegen neutral, wenn nicht gar positiv gemeint: Es geht um Zusammenarbeit. Und diese scheint in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen und in vielen Bereichen ein entscheidender Faktor geworden zu sein:

In der Wirtschaft, wo Kreativität und Innovation zählen, kommen die Unternehmen mit starren Hierarchien nicht mehr weiter – sie sind auf die Kollaboration ihrer Mitarbeiter angewiesen. Umweltprobleme lassen sich nicht von Individuen, nicht einmal von Nationen lösen, sondern nur, wenn viele Akteure sich auf bestimmte Maßnahmen einigen können. In der Politik läuft mit autoritärer Planung überhaupt nichts mehr – die Bürger erweisen sich zunehmend als störrisch und wollen gehört werden, zumal dazu, was mit ihren Steuergeldern geschieht.“

Terkessidis sieht einen veränderten Staat: „Nun ist der Staat heute keineswegs autoritär, vielmehr ist er häufig einfach nicht zu erreichen. Der neoliberale Rückzug macht sich überall bemerkbar, etwa bei der Infrastruktur. Immer mehr Bürger verlassen sich nicht mehr auf die Behörden, sondern springen selbst ein. An der Grundschule meines Sohnes haben die Eltern nicht gewartet, bis das Klassenzimmer renoviert wurde, sondern haben Geld bei Sozialprogrammen beantragt und den Raum in Abstimmung mit den Lehrkräften neu gestaltet.

»Mehr Eigenverantwortung« war der große Slogan der neunziger Jahre, und tatsächlich haben sich die Menschen dieses Prinzip angeeignet. Ihr Vertrauen in die »große« Politik ist ohnehin erschüttert. Politiker gelten als egoistisch und versagen in den Augen vieler vor allem dabei, sich um die grundlegenden »Lebensmittel« zu kümmern: Umwelt, Wasser, Wohnen, Energie, öffentlicher Verkehr etc.
Ohne Kollaboration können diese Gemeingüter nicht zugänglich gemacht und erhalten werden, denn wo der Homo oeconomicus ungehemmt seinem wirtschaftlichen Eigeninteresse nachgeht, kann es keine Lösung für die Probleme geben, die unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen betreffen.“

Es scheint sogar eine logische kulturelle EntwicklungsKette zu sein: ein Mehr an Eigenverantwortung führt auch zu mehr Partizipation und angesichts der Problemgröße und Aufgaben auch zu mehr Kollaboration.

Kultur des Teilens

Terkessidis: „Viele Menschen lassen eine »Kultur des Teilens« entstehen, für die es gleich eine ganze Reihe englischer Wortschöpfungen gibt: Share Economy (oder Shareconomy), Wikinomics, Collaborative Economy oder Mesh. Als Beispiel wird immer wieder das unkommerzielle Teilen von Quellcodes, Wissen, Musik etc. im Netz genannt. In der Tat ist es jedes Mal von Neuem beeindruckend, wie selbstverständlich wir heute auf Wikipedia zurückgreifen, auf ein Lexikon, zu dem Personen weltweit ihr Wissen beisteuern und dessen Fundus sich weitgehend selbst reguliert.“

Von Carsharing bis Crowdfunding sieht Terkessidis immer mehr Beispiele: „Viele Menschen wollen Dinge nicht mehr um jeden Preis besitzen, ihnen reicht ein gesicherter Zugang zu bestimmten Gütern.“

Kulturwandel und Bildungswandel

Seit den PISA-Studien ist Kollaboration auch im Bildungsbereich ein Thema: Finnische Schulen sind unter anderem deswegen so erfolgreich, weil sie das Top-down-Prinzip zugunsten von Zusammenarbeit aufgegeben haben. Konjunktur hatte der Begriff Kollaboration auch in der Kunst. Schon in den sechziger Jahre nwar die alte Vorstellung des genialischen Individuums, das aus sich selbst heraus schafft, ad acta gelegt worden. Statt Objekten sind Prozesse des Austauschs relevant geworden – zwischen Künstlern, zwischen Künstlern und Publikum, zwischen unterschiedlichen Personengruppen.“

Terkessidis erkennt das Prinzip: „Auch weil wir in einer Gesellschaft mit Menschen verschiedener Herkunft, mit unterschiedlichen Religionsbekenntnissen etc. leben, wird ohne Kollaboration in der Zukunft nichts mehr gehen.“

Der Autor erweist sich als moderner und visionärer Denker: „Die globalisierte Welt ist urban, und die Städte sind von Migration, Mobilität und Vielheit geprägt. Anders als bei der klassischen Idee der griechischen Polis ist die Sesshaftigkeit der Bewohner nicht länger eine sinnvolle Voraussetzung für eine Definition des politischen Gemeinwesens.
Die geographischen und kulturellen Positionen der Bürger sind flüchtig; niemand befindet sich mehr auf seinem angestammten Platz, die Stadt ist eine vielgliedrige Parapolis geworden. Das Wort bezeichnet die uneindeutige, quasi illegitime »para«-Version der Polis. Zudem verbirgt sich darin das neugriechische Adjektiv para poli, das »sehr viel«, durchaus aber auch »zu viel« bedeutet: Man könnte also von einem Ort des »sehr viel«, der Fülle sprechen.

Terkessidis wirbt um Verständnis und Lernprozesse: „Dieser Ort ist nicht leicht zu begreifen. Viele Probleme müssen auf einmal bearbeitet, viele Stimmen gleichzeitig gehört und viele Ansprüche zu jedem Zeitpunkt miteinander vermittelt werden.

Vor fünf Jahren habe ich in meinem Buch Interkultur versucht, die herkömmliche Perspektive auf Integration umzudrehen und einen institutionellen Rahmen für die Parapolis abzustecken. Wenn von Integration die Rede war, dann wurde die Sichtweise schnell normativ: »Wir«, die wir angeblich schon immer in einem Land gelebt haben, sind die Norm, und diejenigen, die »zurückgeblieben« (in sozialer Hinsicht) oder »hinzugekommen« (eingewandert) sind, haben »uns« gegenüber Defizite, die es zu beseitigen gilt. Doch die Vielheit lässt sich nicht mehr auflösen oder eindämmen, sie muss als unwiderrufliche Tatsache und Voraussetzung jeden Handelns betrachtet werden.“

Terkessidis Ausgangsgedanken werden hier direkt wiedergegeben, denn sie haben den Autor zu spannenden Fragen hingeleitet: „Die Fragen, die ich mir stellte, lauteten also: Sind alle unsere Institutionen, sind Behörden, Schulen oder Gesundheitseinrichtungen »fit« für die Vielheit?

Das Buch stellt den Leser, das moderne Individuum, vor verschieden Aufgaben: „Sich entfremden“, „Suchen“, „Sich bilden“ und „Schaffen“. Terkessidis setzt sich auch mit dem Thema „Kritik“ auseinander, und formuliert eine neue Aufgabe der Kritik:“

„Heute braucht es mehr denn je eine schaffende, kollaborative Kritik, eine, die sich nicht bloß elegant ihrer Zeitgenossenschaft versichert oder Empfehlungen zum Konsum ausspricht. Die Parapolis ist nicht nur ein Ort der vielen Stimmen, sie ist auch ein Ort der Fülle – sie entfalten zu helfen wäre der Lohn der Kritik.“

Terkessidis wird der Debatte um das Thema „Leitkultur“ einen neuen Impuls geben: Leitkulturen können nur lebendig bleiben, wenn sie auch lebendige Kollaborationen und pflegen und ihren Teil beitragen. Keine schlechte Alternative für eine exportorientierte „Kultur-Nation“!

Über den Autor

Mark Terkessidis (geboren 1966) arbeitet als Publizist mit den Schwerpunkten Popkultur und Migration. 2006 verfaßte er zusammen mit Yasemin Karasoglu ein intensiv diskutiertes Plädoyer für mehr Rationalität in der Integrationsdebatte.
Die Kritik lobt den Autor: »Oft originell und in jeder Passage anregend ist die Gesellschaftskritik von Mark Terkessidis auf alle Fälle. Mit ihm, geboren 1966, hat das Land einen seiner kreativsten, provokativsten und integersten Sozialphilosophen der nächsten Generation.« schrieb Caroline Fetscher, Der Tagesspiegel.

Lesungen und Gespräche zum Buch

15.10.2015 | 18:00 | Hamburg – Kampnagel | 40 € – Veranstaltungslink

09.11.2015 | 19:00 | Berlin – August Bebel Institut | – Veranstaltungslink

Literaturhinweis:

Mark Terkessidis: Kollaboration

Mark Terkessidis
Kollaboration

edition suhrkamp 2686, Broschur, 332 Seiten
ISBN: 978-3-518-12686-8
18 €

m/s