Samstag, 20. April 2024
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Touristische Petitessen #13

Papierpresse

Am 1.1.2015 gilt der gesetzliche Mindestlohn, und fast alle machen mit! Auch Zeitungen, Internetmedien und Medienagenturen!

Mindestlohn und Presseverteiler

Der Mindestlohn muß kostendeckend kalkuliert sein – und in einer gesamten Kette der redaktionellen Leistungen fallen eine Menge kaum sichtbarer Kosten an. Wichtigster Kostenfaktor: der Presseverteiler! Warum aber heißt ein Presse-Verteiler heute noch genau so, wie vor 100 Jahren? Internetmedien funktionieren rein digital und elektronisch – keine Druckerpresse ist im Einsatz.

Der gewohnte Begriff und Gattungsbegriff schattet die moderne Realität etwas ab.

Alte Papierpresse im Keller

Gedruckte Werbung wird immer weniger, auch eine eigene Papierpresse ist nicht mehr notwendig, seitdem Kaufland seine 55.000 Zettelverteiler entlassen hat. Eine im Jahr 2011 angeschaffte kleine Papierbrikettpresse liegt wieder im Keller. Gelegenlich werden noch zu Bastelzwecken Flyer und Zeitungen. Altpapier kommt in die blaue Tonne. Sparsame Menschen bringen es Papierbank, die am Gesundbrunnen, in Weißensee und Buch drei Annahmestellen für Wertstoffe betreibt.

Auch abgelaufene Veranstaltungsflyer, Kunstpostkarten und Kulturprogramme landen irgenwann im Altpapier. Zuvor liegen sie noch eine Weile nach den Veranstaltungsterminen öffentlich in Auslegestellen und Flyerständern aus, bevor der Verteiler wieder aufgefrischt und aussortiert wird.

Ansonsten gibt es einen elektronischen Papierkorb, der „Mitteilungen für die Presse“ mittels Löschfunktion ins digitale Nirwana befördert.

Von Presseverteilern, elektronischen Papierkörben und kultureller Blindleistung

Kulturbetriebe, Galerien, Theater, Künstler, sie alle haben „Presseverteiler“ – meist sind 90-120 Mail-Adressen in den auch uns zugehenden Verteilern. Von Zeit zu Zeit landen versehentlich offene Verteiler in unseren Postfächern, und so hat man natürlich einen genauen Überblick, wer Adressat ist.

Natürlich kann ein Kulturbetrieb versuchen, den eigenen Adressverteiler auszubauen, und Kontakte zu Journalisten pflegen. Aber viele Zeitungen und Redaktionen haben nur noch freie Mitarbeiter. Die aber arbeiten aber nur zeitweise, oder nur an konkreten Themen und Aufträgen, oder das Redaktionsfenster ist gerade vorbei.

Aus Sicht der Journalisten ist es immer sinnvoll, in möglichst vielen Verteilern vertreten zu sein, auch wenn sie gerade gar keinen Vertrag oder Auftrag haben. So drängen immer mehr Journalisten ins System, die aber indivuell immer unsichere Anbindungen an Medien und Redaktionen haben. Sogar die große Frauenzeitschrift BRIGITTE hat sich jüngst auf das System freier Mitarbeiter umgestellt.

Die Kulturstadt Berlin hat damit ein „sendendes und empfangendes System“ aus Pressemitarbeitern und Journalisten, das praktisch zu einem erheblichen Teil nur „heiße Luft“, „Bits & Bytes“ bewegt, und dabei große Mengen Kaffee, Energie, Kekse und Brötchen und anderes zum Lebensunterhalt verbraucht. Vor allem Geld und Zeit!

Tödliches Risiko: kulturelle Blindleistung

Kulturbetriebe aber brauchen Besucher, verkaufte Tickets und bisweilen auch Umsätze im Getränkeverkauf. Die Öffentlichkeit muß erreicht werden. Wenn die Verteilung nicht klappt, wächst hier schnell die Not.

Für alle Kulturbetriebe ist es ein tödliche Risiko: beim Versand der Presseverteiler gehen viele Mails einfach in elektronischen Papierkörben unter. Professionelle Pressemitarbeiter in Kulturbetrieben müßten ihre Empfänger also auch anrufen, ein Feedback einholen, und so eine Publikation sicherstellen, oder wenigstens eine Absage einholen.

Das kostet aber Zeit, sehr viel Zeit. Es kostet Geld, vor allem eigene Honorarmittel.

Ein großer Teil der Kulturarbeit der Stadt und der Finanzmittel werden für „kulturelle Blindleistung“ eigesetzt, die gar keinen Effekt haben. Es wird nur das gute Gefühl erzeugt, etwas versucht und getan zu haben, … . – Und „nichts unversucht gelassen zu haben“ – so die hilflose Entschuldigungsformel, wenn eine Galerie- oder Theaterschließung droht, oder Mietverhandlungen neu aufgenommen werden.

Die kulturelle Blindleistung baut sich quasi unbemerkt auf, und ist deshalb so schwer in Griff zu bekommen, weil der Mensch ein Gewohnheitstier ist, das gern seine Abläufe überschaubar hält.

Die kulturelle Blindleistung vergrößert sich, seitdem Smartphones genutzt werden. Längst sind in der Zielgruppe der Menschen zwischen 18-45 über 81 Prozent mit Smartphones aktiv. Journalisten bilden kaum eine Ausnahme, es sei denn, sie haben einen festen Arbeitsplatz mit Tarifvertrag und Desktoparbeitsplatz.

Natürlich haben immer noch über 80% aller Internetnutzer auch einen Laptop oder Desktop-Computer, aber diese werden neben dem Smartphone genutzt, und verfügen natürlich auch über Löschtasten und elektronischen Papierkorb. Das Grundproblem bleibt: knappe Zeit und Eile.

Erfolgskontrolle?

Im Ernst: wieviel Response gibt es auf Ihre Veranstaltungsankündigungen? Wieviele Veröffentlichungen? Natürlich kann man das messen, indem keine Volltexte, sondern nur noch Links versendet werden, deren Abruf gezählt wird. Lesebestätigungen an Mails sind heute schon fast Stalking, und deshalb kaum noch gebräuchlich.

Aber auch das kostet Aufwand. Soll man sich diesen Frust mit der Erfolgskontrolle antun? Was wenn jemand merkt, die Pressemitarbeit ist nicht so effektiv wie erhofft? Was wenn Bezirksverordnete das Verhältnis von Personalkosten und Öffentlichkeitsarbeit näher untersuchen?

Pressemitarbeiter von Kulturbetrieben strahlen deshalb immer einen unerschütterlichen Optimismus aus. Alles andere könnte den Job gefährden. Erfolgskontrollen – sowas geht daher praktisch gar nicht, verdirbt nur das Betriebsklima.

Die Empfängerseite

Auf Seite der Empfänger kommen täglich Dutzende, manchmal sogar hunderte Mails. Professionelle PR-Agenturen geben gern das Veranstaltungsdatum in die Betreffzeile ein, auch die wichtigen Schlagworte. Bei vielen Mails muß aber erst nachgeschaut werden, bevor der Empfänger liest, oder gleich löscht.

So fallen auch hier viele Nachrichten durch ein schnelles Raster. 36 Megabyte große Programme zu Literaturfestivals kosten viel Ladezeit. Sie kommen auf Smartphones auch einfach wegen Verbindungsabbruch nicht an.

Skurrile PR-Kette landeseigener Wohnungsbauunternehmen

Noch skurriler ist das Verhältnis von PR-Agentur und freien und prekär beschäftigten Journalisten. So beauftragen zum Beispiel landeseigene Wohnungsbaugesellschaften neuerdings professionelle PR-Agenturen, und die wiederum wenden sich an prekär und frei beschäftigte Journalisten, die die Meldung „journalistisch“ weitertragen und verbreiten sollen. Eine nett audgedachte Guerilla-Taktik, die aber keine ökonomische Grundlage haben kann.

Die Naivität der Auftraggeber gibt wirklich zu denken! Mit dem Umschwenken auf PR-Agenturen, damit verbundener Kürzung der Anzeigengelder wird die kulturelle Blindleistung nicht beseitigt. Smartphone-User mögen auch keine Werbung, und auf immer mehr Notbooks sind heute intelligente Anzeigenblocker aktiv.

So ist das publizistische System einer Stadt längst in Bewegung geraten, und grundlegende Fragen tun sich auf:

Wieso sollte ein freier Journalist einer hochbezahlten PR-Agentur aus der Patsche helfen, und etwas publizieren? Also auch bei interessanten Themen der landeseigenen Wohnungsgesellschaften wird vermehrt auf die Löschtaste gedrückt.

Blindleistung beim Empfänger

Zählt man auf Empfängerseite, so werden weniger als 1-2 Prozent aller Mails auch tatsächlich verarbeitet. Projekträume, Künstler, Galerien und die Vielzahl kleiner fallen so durchs Raster. Viele kleine Kulturveranstalter bekommen daher höchstens ab und zu „lieblose Dreizeiler“ mit Datum, Zeit, Titelzeite und Ort der Veranstaltung.
In gedruckter Form sind diese Kurzankündigungen in den Kulturteilen der Tageszeitungen auch für viele Menschen kaum noch lesbar. Zu klein die Schrift – aus der Menge der kleinen Texte wird ganz schnell eine Textwüste, die auch der geneigte Leser überfliegt.

Nach dem Papierkorb, scherzhaft auch „Rundablage“ genannt, regiert heute die „Löschtaste“ die Kulturwelt und den Kulturtourimus.

Die unsichtbare Hand der „Löschtasten-Bediener“ sorgt für Erfolg oder Mißerfolg, und verhindert schleichend die Entstehung eines kulturellen Marktes. Nur eine „Sozialpartnerschaft“ von Kulturbetrieben und „Löschtasten-Bedienern“ kann das ändern.

Oder man schafft die Löschtaste einfach ganz ab – und verändert die Spielregeln!