Die Donnerstag-Talkshow von Maybritt Illner im ZDF unter dem Motto „Abstiegsangst im reichen Land – Warum wächst die Wut?“ demonstrierte eindrucksvoll die Wahrnehmungskrise der großen Volksparteien.
Die Talkshow-Redaktion hatte das Thema zielgenau gesetzt:
„Es ist das Mantra der Bundesregierung: Deutschland gehe es gut, der Arbeitsmarkt brummt und bisher habe niemand einen Euro weniger, weil Flüchtlinge zu uns gekommen sind. Im aktuellen Armutsbericht des Statistischen Bundesamtes muss sich die Regierung eines Besseren belehren lassen: Das Armutsrisiko steigt – die Angst vieler Bürger abgehängt zu werden ebenso.“
Insbesondere der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU- Bundestagsfraktion Ralph Brinkhaus und die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer bewiesen gro0e Eloquenz im „Vorbeireden“ am Thema – und redeten auch über die Köpfe der Betroffenen hinweg.
De TV-Kritik in den Medien folgte Stunden später. In BILD kommentierte Josef Nyary eher zurückhaltend: „Betroffenheitsexperten im Alarm-Modus, aber wenig Partei-Püree und das moralische Makeup nicht zu dick aufgetragen: Das war ein Info-Talk der Kategorie „Hat sich gelohnt“ (BILD | 30.9.2016).
Stephan Paetow formulierte deftiger in seinem Kommentar : „Maybrit Illner: Lieber arm dran als Arm ab! (TICHYS EINBLICK 30.9.2016). Das liberal-konservativen Meinungsmagazin TICHYS EINBLICK schaut auf die Gefühlslage: „Wir sind alle reich, nur manche wissen es einfach nicht, erklärten die Damen und Herren bei Illner. Armut ist was für Ausländer (im Ausland), bei uns ist es kein Zustand, sondern ein Gefühl. Das beweisen zahlreiche Statistiken.“
Frank Lübberding nannte die Dinge beim Namen: „Viele Politiker empfinden die Abstiegsängste der Bürger als eine Art Wahrnehmungsstörung. Da muss man sich fragen, ob diese Politiker überhaupt wissen, welche Politik sie zu verantworten haben.“ ( 30.9.2016 FAZ).
Der Kommentator weist auf einen wichtigen Widerspruch hin:
„In der Flüchtlingspolitik bewies die Politik hingegen finanzpolitische Großzügigkeit. Sie appellierte an das Solidaritätsgefühl der Menschen. Aber das steht in Widerspruch zu jener Globalisierungsideologie, wo beides bisweilen als eine Hängematte namens Sozialstaat charakterisiert worden ist. Das erzeugt die von Frau Illner im Titel ihrer Sendung genannte Wut, manchmal sogar Hass. Flüchtlinge bekommen zwar auch nur das sozialstaatlich garantierte Existenzminimum. Aber diese politisch richtige Gleichstellung empfinden viele Menschen anders: Nämlich als Abwertung ihrer eigenen Lebensleistung. Dieses Bewusstsein wird man nicht mit den unverbindlichen Worten von netten Ministerpräsidentinnen verändern.“
Reden – über die Köpfe der Zielgruppe hinweg
Ministerpräsidentin Malu Dreyer antwortet etwa bei Maybritt Illner zur Eingangsfrage: „Selbstverständlich fordert uns diese Frage immer wieder heraus, aber wir tun Einiges, und müssen weiter nachlegen, denn es kann uns nicht zufrieden stellen, dass in Deutschland jedes 5. Kind armutsgefährdet ist.“ – Es ist ein typischer Satz, der über die Ursachen und die politische Verantwortung der Versursacher nonchalant hinweggeht.
Und dann kommt der für Sozialdemokraten so typische Ausweg, auf ein gerade gestartetes Programm mit dem Namen „Allianz für Bildung“ verwiesen – ein Programm das erst mittelfristig wirken kann – und unmittelbare Not kaum lindert. Über die konkrete Not der 15,7% von Armut betroffenen Menschen wird „programmatisch hinweggeschwebt“ – ein Politmuster, das die Bürger der SPD seit Jahrzehnten unkritisch abgenommen haben.
Der CDU-Finanzpolitiker Brinkhaus legt noch nach, und erzählt etwas von „Lottogewinn“, wenn man im Lande lebt. Und wenn dann der rheinische Pfarrer Meurer von „Unbehaustheit“ redet, statt Angst vor Mieterhöhung und Obdachlosigkeit zu sagen, wird es sogar mit der Folklore zuviel.
Auch Prof. Dr. Clemens Fuest legt den Finger in die Wunde, denn ein großer Teil der Sozialtransfers im Lande geht an Nicht-Bedürftige. Doch er verdrängt die real gestiegene Armut, nennt es „mehr ein Gefühl“. Auch er rätselt, woher dieses Gefühl kommt – und nimmt nicht die katastrophale Lage auf dem Wohnungsmarkt in den Blick, der vor allem in Ballungsräumen Menschen mit hohen Mietbelastungsquoten und Kündigungsängsten überfordert.
Ullrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes rückt den Blick auf die Zahlen zurecht. Mit Verweis auf den Rekordstand von 15,7% Armutsquote und der Frage „Sind 948 € im Monat Armut, oder nicht?“ bringt er Fuest und Brinkhaus gegen sich auf. Schneider verweist darauf, dass 7,5 Millionen Menschen Fürsorgeleistungen beziehen und 1. Million Langzeitarbeitslose seit Jahren, …“seit Jahren bewegt sich an den Zahlen nichts!“.
In Minute 24:40 kommt Schneider auch auf die Ursache zu sprechen: Seit 2010 wurden Milliardenbeträge in der Arbeitsförderung und Vermittlung von Langzeitarbeitslosen eingespart.
Es sind übrigens Milliardenbeträge für Arbeitsförderung und Wiedereingliederung die schon zweckgebunden und parlamentarisch genehmigt waren, die bei Armen und Arbeitslosen zweckentfremdet, nichtverwendet und hinterzogen wurden.
Volkswirtschaftlich gesehen hat sich hier die Politik an der Zukunft des Landes, der Zukunft der Kinder und mittelbar auch an mittelständischen Wirtschaft versürdigt, die aufgrund fehlender Kundenumsätze selbst unter Druck gerät!
Heute nun wäre nötig zuerst ehrlich zu reden, wenn man davon redet, wie gut es im Land geht:
„Uns – minus 15,7 % – geht es gut!
„Wir – minus 15,7% – leben in der besten aller Welten!“