Ratten gehören in Prenzlauer Berg ganz selbstverständlich zum Stadtbild. Mitten auf der Schönhauser Allee kann man sie auf einem Wandgemälde eine Hauswand emporklettern sehen. An anderen Orten sind dagegen lebendige Ratten anzutreffen, die für erschrockene Menschen und journalistische Schlagzeilen sorgen. Als scheue, nachtaktive Tiere huschen sie durch Beete, Gras oder über Wege, auf der Suche nach verwertbaren Futter. Der Arnimplatz ist so ins Gerede gekommen – aber es gibt in ganz Berlin ein Rattenproblem.
Über 9.000 Einsätze – amtliche Statistik meldet Zuwachs
Im Kampf gegen Ratten sind die Schädlingsbekämpfer in Berlin im vergangenen Jahr 2012 laut amtlicher Statistik mehr als 7000 Mal ausgerückt.
Das ist fast doppelt so oft wie im Vorjahr (2011 = rund 3800 Einsätze). Der starke Anstieg sei möglicherweise mit der seit 2011 geltenden neuen Schädlingsverordnung zu erklären.
„Die schreibe nun Meldungen an die Ämter vor“, sagte der Biologe Uwe Stutzke vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso).
Dem Landesverband der Schädlingsbekämpfer zufolge waren die Kammerjäger aber noch deutlich häufiger unterwegs. „Allein die 20 Mitgliedsfirmen hätten dem Verband mehr als 9000 Einsätze gemeldet“, sagte der Vorsitzende Mario Heising. „Nicht immer würden Einsätze auch den Behörden gemeldet“. So erklärt sich die Diskrepanz zwischen amtlicher und gewerblicher Statistik.
100-200 Euro kostet ein Einsatz der Schädlingsbekämpfer, von denen rund 80 Firmen ihre Dienste in Berlin anbieten.
Ratten folgen dem Menschen seit dem Mittelalter
Ratten sind Allesfresser, nicht nur mit Speck, Käse, Kartoffeln, Fleisch lassen sie sich anlocken – auch Nahrungsreste und Nahrungsmittelabfälle werden von Ratten verwertet. Eiweißhaltige Reste locken Ratten mit ihrem Geruch magisch an. Auch die Abwasserkanäle der Stadt sind voller verertbarer Reste, weil Restaurants und Küchen ihre Spülwässer und Nahrungsrest in den Ausguß ableiten.
Ratten sind Kulturfolger – und folgen dem Menschen, überall wo verwertbare Reste vom „Tisch der Zivilisation“ fallen – oder wo der Mensch Vorratslager für Nahrungsmittel anlegt. Mensch und Ratten führen deshalb auf dem Planeten einen immerwährenden Kampf – der nur durch Gedankenlosigkeit und Unwissenheit aus dem Gleichgewicht gerät.
Im Mittelalter warfen die Bürger ihre Fäkalien und Abfälle direkt aus dem Fenster in die kleinen Gassen. Ratten wurden damit zu Hauf angelockt und sorgten für die extrem schnelle Verbreitung der Pest und anderer Krankheiten. Unwissenheit der Stadtbewohner in Bezug auf Hygiene und deren Bedeutung, und der verbreitete Aberglaube sorgten dafür, dass die Ratte grundsätzlich als Unglücksbringer angesehen wurde.
Die damalige Trinkwasserversorgung war ebenfalls nur schlecht organisiert. So wurde das Grundwasser, welches durch Abwässer und Urin durchsickert war, als Grundlage des Trinkwassers genutzt.
Die große Pestwelle im Mittelalter traf auf unwissende Menschen, und wurde zur Katastrophe, weil Rattenflöhe ein unbekanntes fakultativ anaerobes Stäbchenbakterium namens „Yersinia Pestis“ übertrugen.
Ratten und Menschen lebten im Mittelalter quasi in enger Symbiose, weil sich in offenen Abwasserkanälen und Abfallgruben und in der damals offenen Hausschweinehaltung an den offenen Schweinesuhlen ideale Futterplätze für Ratten boten.
Alain Corbin hat die damaligen Zustände kulturgeschichtlich beschrieben und einen wichtigen Aspekt der „Mentalitätengeschichte“ dargelegt: Pesthauch und Blütenduft: eine Geschichte des Geruchs (1984 Berlin, Wagenbach-Verlag). Ein heute unvorstellbarer Gestank erfüllte einst den Alltag in Stadt und Land. Erst zur Ziet der französischen Revolution wurde in Paris der erste Lehrstuhl für Hygiene eingerichtet, und erst rund 100 Jahre später ist man in der Lage, die gesundheitsgefährdenden Wirkungen der „stinkenden Ursachen“ zu begreifen und zu bekämpfen.
Ratten als Krankheitsüberträger
Ratten übertragen Krankheiten – und lange Zeit war der Mensch unwissend und wehrlos gegen die von Ratten ausgelösten Seuchen, wie Tollwut, Pest, Tuberkulose und Milzbrand.
Die Bezeichnung „Virus“ wurde zum ersten Mal von Cornelius Aulus Celsus im ersten Jahrhundert v. Chr. in seiner medizinischen Enzyklopädie verwendet. Er bezeichnete den Speichel, durch den Tollwut übertragen wurde, als „giftig“.
Erst die Fortschritte der modernen Wissenschaft ermöglichten es, den fatalen Geheimnissen der Krankheitsübertragung auf die Spur zu kommen. Antoni van Leeuwenhoek entdeckte Bazillen, Kokken und Spirillen in selbstgebauten Mikroskopen – und legte als Pionier die Grundlage für die moderne Bakteriologie. Er wurde aber erst 1677 wissenschaftlich zur Kenntnis genommen.
Erst im 19. Jahrhundert erreichte die Wissenschaft den notwendigen Erkenntnisstand, um die Rolle der Ratten bei der Übertragung von Krankheitserregern nicht nur zu erkennen, sondern auch zu bekämpfen.
Joseph Lister, Louis Pasteur, Paul Ehrlich und Robert Koch legten mit weiteren bedeutsamen Erkenntnissen die Grundlage für eine erfolgreiche Seuchenbekämpfung mit Antibiotika und Impfstoffen.
Erst im späten 18. Jahrhundert begann auch die biologische Forschung. John Berkenhout (* 8. Juli 1726 in Yorkshire; † 3. April 1791) beschrieb als erster 1769 die Wanderratte – vor dem berühmteren Biologen Carl von Linné.
Er gab ihr den Namen Mus norvegicus („norwegische Maus“); 1821 wurde sie von J. E. Gray zusammen mit der Hausratte (von Linné als Mus rattus beschrieben) in eine neue Gattung Rattus gestellt.
Inzwischen ist die Lebensweise der Ratten gut erforscht: Wanderratten sind Allesfresser, wobei pflanzliche Nahrung meist weit überwiegt. In den Mägen untersuchter deutscher Wanderratten fanden sich zu 39 % nur verschiedene Getreidesorten. Weitere 34 % hatten nur frische Pflanzenteile wie Früchte, Gemüse und Gräser gefressen. In 11 % der Mägen befanden sich sowohl pflanzliche wie tierische Bestandteile, in 10 % ausschließlich Fleisch oder Fisch. Bei Fallenversuchen wurden kohlehydratreiche Köder wie Haferflocken gegenüber Ködern aus Gemüse, Fleisch oder Fisch deutlich bevorzugt.
Die Ratte – der ungebetene „Mitesser“
In Europa lebt die Wanderratte überwiegend „kommensalisch“ (als Mitesser) von Nahrungsmitteln des Menschen. Anders als ein Parasit richtet die Ratte als „Mitesser“ keinen direkten körperlichen Schaden beim Wirt an. Gefährlich sind lediglich Abwehrbissene, wenn Mensch der Ratte zu nahe kommt. Als „Farbratten“ sind Ratten übrigens auch beliebte und durchaus umgängliche Haustiere.
Ratten nutzen ein breites Spektrum weiterer pflanzlicher und tierischer Nahrungsquellen. Sie erklettern Bäume, um im Frühjahr Knospen und junge Triebe und im Spätsommer Obst und Walnüsse zu fressen. Die Ernährung erfolgt auch carnivor und räuberisch, Wanderratten fressen unter anderem Vogeleier, junge und geschwächte Vögel, junge und erwachsene Wühlmäuse, Amphibien und auch Mollusken.
Ökologisch haben Ratten daher auch nutzbringende Aufräum-Funktionen, weil sie noch vor Aasfressern, Schimmel und Fäulnisbakterien verwertbare Nahrung vertilgen. Der Rattenkot aber ist problematisch und infektiös – und so sind Ratten als Krankheitsübertrager zu Recht gefürchtet.
Moderne Stadthygiene und die Einführung der Kanalisation
Während der großen Stadterweiterungen im 19. Jahrhundert wurde die Notwendigkeit einer organisierten Stadthygiene immer mehr erkannt.
In Berlin befürwortete Rudolf Virchow die Einführung der Schwemmkanalisation – während der Frankfurter Arzt Georg Varrentrapp eine Fäkalabfuhr und Nutzung als Dünger befürwortete. Zusammen mit James Hobrecht war Virchow ab 1869 maßgeblich daran beteiligt, dass Berlin um 1870 eine Kanalisation und eine zentrale Trinkwasserversorgung erhielt. Die Entwässerung der Stadt lief über zwölf unabhängige Radialsysteme, die zu Rieselfeldern außerhalb der Stadt führten, die damals sauberste Lösung der Abwasserbeseitigung.
Mit der Einführung der modernen Kanalisation und der Pflasterung der Innenstädte hat der Mensch die Ratten scheinbar erfolgreich aus der Stadt verdrängt.
Doch Ratten sind sehr anpassungsfähig, und führen seitdem in der Stadt ein „unterirdisches Leben“. Die Kanalisation stellt die Verbindungstunnel zwischen Häusern her. Restaurants, Imbisse und jede moderne Küche spülen heute Nahrungsreste in die Kanalisation, die sich auch absetzen, festkleben – und Ratten als Nahrungsgrundlage dienen, solange sie noch frisch und unverfault sind.
Der modern denkende, ökologisch denkende Mensch ist heute ein unfreiwilliger Förderer der Ratten geworden: „Wassersparen in der Stadt“ ermöglicht den Ratten heute auch, vielfach auf trockenen Pfoten durch das unterirdische Labyrinth der Stadt zu wandern. Die geringere Wassermenge bringt eine geringere Fließgeschwindigkeit mit sich, Nahrungsreste bleiben vermehrt haften – und Ratten breiten sich daher vermehrt aus.
Moderne Bauweisen erleichtern das Rattenleben
Moderne Bauweisen machen heute so manches Wohn- und Bürohaus zum „Ratten-Palais“. Fehlende Edelstahl-Sperrschieber in Abwasserrohren ermöglichen die Besiedlung durch die Abwasserleitungen. Es ist kein böser Mythos: In manchen Fällen sind Ratten auch Steigleitungen bis in den vierten Stock hochgeklettert und aus dem WC-Becken gesprungen. Auch moderne Dusch- und Wannenträger aus Styrodur bieten eine ideale Möglichkeit, zur Besiedlung, und manches Kratzgeräusch hinter Duschtassen und Badewannen ist auf Rattenfamilien zurückzuführen.
Doppelschalige Dämmwände, abgehängte Decken, aufgeständerte Böden und die vielen Versorgungsschächte schaffen praktische eine „Parallelwelt“ für Ratten.
Teeküchen, Küchen und Kantinen, Schränke und Speisekammern sorgen im laufende Betrieb für steten Futternachschub. „Kaffee, Sahne, Zucker, Plätzchen und Lebesnmitelpackungen mit Müsöi, Haferflocken, Mehl und Gries sind wahre Schatzkästchen für Ratten.
Ein Rattenbefall ist meldepflichtig, hochnotpeinlich – und manche Bekämpfungsmaßnahme wird deshalb „vertrauensvoll“ durchgeführt.
Schädlingsbelämpfer können heute genau sagen, ob ein Haus befallen ist: „Wenn unten an den Außenwänden Dämmwolle raushängt oder Styroporkügelchen liegen, sind Ratten aktiv unterwegs.“
Mitunter treffen Schädlingsbekämpfer auch auf verwesende Ratten die hinter Wänden oder unter Duschtassen und Badewannen verendet sind, weil sie als ausgewachsene Tiere den Fluchtweg nicht mehr passieren können. Auch vergiftete Tiere verenden meist an unzugänglichen Orten, und aus Steckdose und Badabläufen breitet sich dann fürchterlicher Geruch aus.
„Architekten sollten daher schon bei der Bauplanung an Rattensicherheit denken“ raten Schädlingsbekämpfer.
Grünflächen als Rattenparadies?
Mit der naturnahen und extensiven Grünflächenpflege in öffentlichen Parkanlagen ging eine Reduzierung der Zahl der Gärtner einher. Während früher Flächen gegrubbert und geharkt wurden, bleiben heute vielfach Gräser und Wildkräuter stehen, und bieten nach Blütezeit und Samenausbildung eine nachwachsende Rohstoffquelle für Ratten. Zudem: Grillabfälle und Lebensmittelreste aus überfüllten Papierkörben sorgen für eiweißhaltige Rattenkost.
Unsere öffentliche Sparsamkeit verhindert auch die zeitnahe Leerung der Abfallbehälter – und schafft damit seit über 30 Jahren ein immerwährendes Schlagzeilenthema in Berlin.
Der organisatorische Engpaß: am Wochenende müssen tarifgebundene Arbeitnehmer 25% Wochenendzuschlag bekommen – eine sparsame Politik lässt das Personal deshalb nicht am Wochenende an die Abfallberge heran.
Wenn Gärtner montags im Park anrücken, ist der Müll oft großflächg verteilt, Wind verfrachtet leichte Papierreste, und Krähen holen bisweilen sogar ganze Plastikbeutel aus den Papierkörben – und erbeuten Grill- und Nahrungsmittelreste samt Papptellern.
In manchen Gartenrevieren besteht die gärtnerische Tätigkeit aus Abfallsammeln – und die vernachlässigte Pflege sorgt für einen noch besseren und nahrhafteren Pflanzenaufwuchs.
Ratten auf dem Arnimplatz und anderswo
Auf dem Arnimplatz hat sich das Rattenproblem schon seit einger Zeit aufgebaut. Die SPD Falkplatz- Arnimplatz hatte bereits am 18.09.2012 und am 11.03.2013 Kleine Anfragen an das Bezirksamt Pankow eingereicht. Auch Mathias Kraatz (Bündnis 90/Grüne) ist mit einer Kleinen Anfrage tätig geworden. Inzwischen ist die Grünflächenpflege mit Mäh- und Pflegegängen durch – und eingeleitete Bekämpfungsmaßnahmen haben die Rattenpopulation reduziert.
Die geforderten Maßnahmen nach besseren Papierkörben und häufigerer Entleerung sind jedoch nur punktuelle Maßnahmen. Auch eine biologische Schädlingsbekämpfung ist kaum praktikabel – Ratten leben so versteckt, sie haben praktisch keine Freßfeinde. Lediglich Uhus sind geeignete Gegner für die nachtaktiven Ratten – doch die scheuen Vögel meiden die Innenstädte.
Verhaltensbedingter Rattenbefall
Die Lösung für unsere gutbesuchten Grünanlagen und Parks ist eine zeitnahe „witterungs- und nutzungsabhängige Samstags- und Sonntagsleerung“ und ein Ordnungsdienst am Wochenende, der auch für Sauberkeit neben den Papierkörben sorgt. Müll, der in der Nacht noch herumliegt, ist sichere Beute für die nachtaktiven Nager.
Auch die „Sparsamkeits-Sitte“, Gras und Wilkräuter bis in die Samenphase wachsen zu lassen, sorgt für reichliches Nahrungsangebot und „verhaltensbedingten Rattenbefall“ – der durch Grünflächenämter initiiert wird.
Und der Trend zu immer mehr Kiosken und Imbiss-Läden bewirkt ein verändertes Nahrungsangebot. Die herabfallenden Krümel am Stehimbiss sind das eher geringere Problem, weil Tauben und Sperlinge hier tagsüber wachsame Mitesser sind. Irgendwann sterben aber die Vögel, und werden im Nahrungskreislauf auch von Aasfressern und Ratten verwertet.
Unsere Fokussierung auf „Abfälle“ ist vermutlich auch etwas einseitig, weil wir durch „Wassersparen“ und „sparsame Grünflächenpflege“ insgesamt für ein wesentlich verbessertes Nahrunsgangebot für Ratten sorgen.
Das sichtbare Auftauchen von Ratten ist daher „verhaltensbedingt“ und hat mit unserer veränderten Mentalität zu tun, die aus Sparsamkeit und Unachtsamkeit ein immer größeres und attraktiveres Nahrungsangebot an der „Oberfläche der Stadt“ schafft.
Die Rattenbekämpfung bleibt daher eine immerwährende zivilisatorische Aufgabe. m/s
Weitere Informationen:
Landesamt für Gesundheit und Soziales: Ratten – Informationsblatt