Von Michael Springer
Das alte Jahr 2023 brachte Krieg, Temperaturmaxima, extreme Klima-Protestformen, politische Dauerkrisen in der Bundesregierung und in den drei regierenden Ampel-Parteien — und dazu eine populistische Aufladung aller Medien und Diskurse in Deutschland.
Der Ukraine-Krieg tobt im zweiten und bald im dritten Jahr. Russland wird durch Wladimir Putin zugrunde gerichtet, und in ein „großrussisches Totenreich“ mit nun schon über 361.000 toten Soldaten verwandelt.
— Spätestens seit dem 7. Oktober 2023 zerfällt auch der letzte humane Konsens und bisherige Kern des humanitären Völkerrechts der Genfer Konventionen. —
— Der Terror gegen Israel wurde von Hamas bewußt und gezielt gegen zivile Opfer, Kinder und Frauen gerichtet. Die physische und psychische Vernichtung „ausgewählter“ Opfer wurde als methodisches Medienspektakel kalkuliert. —
Inzwischen hat dies auch für die Hamas und die als Schutzschild genutzten Menschen in Gaza unausweichliche, schreckliche und tödliche Konsequenzen. Israelische Armee und Luftwaffe haben härter als erwartet militärisch reagiert, und verwandeln Gaza inzwischen in ein neues Dresden.
Eine Zeit der Multikrisen zieht offenbar herauf, die die gesamte Welt erfaßt und die auch die bisherige in über 70 Jahren gewachsene internationale regelbasierte Weltordnung des Völkerrechts obsolet werden lässt.
Zum Jahresende war es daher an der Zeit, einmal inne zu halten — und in medias res zu gehen! — Während andere Redaktionen Grußworte und Neujahrswünsche schon formulierten, wurde hier in der Redaktion ausgeruht und nachgedacht.
„Mitten in die Dinge“ zu gehen, ist heute nicht mehr einfach möglich:
- in der extrem hohen täglichen und alltäglichen Nachrichtendichte,
- mit sehr dichter Nachrichtenfolge,
- inmitten eines stürmische Booms neuer Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz,
- umgeben von immer mehr Information hinter Bezahlschranken,
- und immer mehr in Streaming-Formaten eingefangenen Informationen,
geht der Einblick und Überblick völlig verloren. Es ist kaum noch möglich, einen Ruhepol zu finden, eine Position und einen Standpunkt, von dem aus die Welt allgemein und gültig noch betrachtbar ist.
— Die Politik und alle politischen Akteure, aber auch alle Menschen leiden inzwischen darunter, werden dabei auch von einer Informations-Überkomplexität überfordert.
Innehalten benötigt Zeit, Ruhe, Muße. — In Berlin inmitten des Silvestertrubels war das kaum zu finden.
Ein Spaziergang im Tiergarten, ein Blick auf das Zentrum der Hauptstadt, mit Reichstagsgebäude und Kanzleramt, regte dennoch die wichtigsten neuen Grundgedanken an.
Drei golden gefärbte Skulpturen im Skulpturenpark gegenüber dem Platz der Republik, mahnen als „Wächter der Zeit,“ die alle Zeitläufte beobachten:
— „Es geht immer um Zeit, um Zeit für Erkenntnisse und um Zeit für jede Vorbereitung und für alle Entscheidungsfindungen!“ — „Und es geht um die Zeit für Erkennen, Gestalten und Verhandeln, bevor wirksame Entscheidungen, wirksame Lösungen und wirksame Politik in Gang kommen können!“
Drei „Zeitwächter“ stehen gegenüber dem Deutschen Bundestag, geschaffen vom österreichischen Maler, Bildhauer und Fotograf Manfred Kielnhofer*. Sie vermitteln dem Betrachter eine gewichtige Erkenntnis, die vom inzwischen verstorbenen Andreas Weiskopf formuliert wurde: „Ein Jeder ist für die Geschehnisse seiner Zeit (mit)verantwortlich, jede unserer Taten wird von den „Wächtern“ gesehen und bewertet.“
Eine limitierte Auflage von 99 „Wächtern der Zeit“ ist seit der Biennale Venedig 2019 heute in aller Welt zu finden. — Europa, Amerika, China, Australien oder Afrika, die „Wächter der Zeit“ sind zu globalen Wächtern geworden, die allerorts Politiker und Bürger mahnen, die zur Verfügung stehende Zeit klug und effektiv zu nutzen.
Deutschland verfehlt seine Klimaziele für 2030
Das Umweltbundesamt veröffentlichte im August 2023 seien aktuellen Projektionsbericht. Demnach wird Deutschland die bis 2030 erlaubten CO2-Emissionen um bis zu 331 Millionen Tonnen überziehen.
Der UBA-Projektionsbericht 2023 für Deutschland misst im Prinzip einen Zeitverzug, nur wird dabei in Milionen Tonnen CO2-Äquivalenten gezählt. Der Projektionsbericht macht deutlich: so wie bisher kann das Ziel der Netto-Treibhausgasneutralität bis 2045 nicht erreicht werden! — Das Klima-Ziel eines stark reduzierten persönlichen CO2-Fußabdrucks ist kaum erreichbar, wenn es nicht wirksamere Maßnahmen und schnellere Entscheidungen für innovative und große skalierte Lösungen gibt.
Angesichts der Verbrauchs-Dimensionen reicht auch der 2023 erreichte Rekord für eine klimaneutrale Stromerzeugung von fast 52% (nach BDEW) nicht aus.
Zeitreihen, Zeit-Budgets, Zeithorizonte & Lebenszeitpotentiale
In Deutschland hat sich über lange Jahre eine höchst problematische Kultur- und Politikpraxis im Umgang mit Zeit und Zeitfaktoren eingeprägt. Zehn Jahre Verspätung und zehn Milliarden Euroa Mehrkosten bei der Fertigstellung des Großflughafens BER sind ein weithin international sichtbares Mahnmal, das Deutschland und der gesamten deutschen Wirtschaft weltweit systemischen Mißkredit eingefahren hat.
Wie geht unsere Politik heute mit evidenten und klar erkennbaren Zeitreihen und darin erwachsenden Problemlagen um? — Wie werden heute Zeitbudgets und Zeithorizonte geplant? — Werden im Wettbewerb mit bevölkerungsreichen Staaten auch die eigenen Lebenszeitpotentiale der Bürger und wirtschaftlichen Akteure mit in die Planung einbezogen?
Inzwischen ist die „Zeitkultur“ in Deutschland sogar auf unhaltbare Weise degeneriert, weil sich immer mehr „Ineffizienzen,“ „Blindleistungsprozesse“ und „Blindleistungsgrößen“ aufbauen:
- wenn die Schulabschlussquote im Bildungssystem sinkt, und rund 4,9% der Bevölkerung ganz ohne Abschluss sind, wird die zur Verfügung stehende Schulzeit zu weniger als 100% genutzt. Hält dies über 70 Jahre an, erwachsen daraus große soziale, kulturelle und ökonomische Problemlagen.
- wird bei der Verkürzung der Lebensarbeitszeit die Verlängerung der „Lebenserwerbslos-Zeit“ mit Renten- und Pensionen mit bedacht? — Werden dazu die Finanzierungsfolgen offen gelegt, oder sogar verheimlicht?
- sind Zeit- und Kapazitätsplanungen bei zu vielen Zuständigkeiten und Verzögerungsfaktoren noch möglich?
- sind das Jährlichkeitsprinzip in der Haushaltsplanung, Schuldenbremse und verzögerte Umsetzung von Lösungen inzwischen krisenverstärkend, mit schädlichen volkswirtschaftliche Auswirkungen?
- werden die Möglichkeiten der Digitalisierung überhaupt effizient und sparsam genutzt, um Dienste echtzeitfähig zu machen? — Oder entstehen hier völlig neue und unerwartete Ineffizienzen?
Die Liste der Problemlagen lässt sich beliebig erweitern!
— Der kritische Faktor wächst sich zu einem kommenden Kipp-Punkt-Ereignis aus: Wenn die Bürger konkret bemerken, wie eine Regierung die Lebenszeitpotentiale der Bürger mehr und mehr einschränkt, verschwendet und vergeudet, dann erwachsen Unmut und Protest im Land! —
— Ein frohes, glückendes und supereffizientes Neues Jahr 2024 benötigt einen grundlegenden Politikwechsel — der die kreativen und wirtschaftlichen Entfaltungsfreiheiten stärkt!
*) Die Künstlergemeinschaft mit Rolo Geisberg, Manfred Kielnhofer und Andreas Weiskopf schuf erstmals 2019 zur Biennale in Venedig 2019 das Projekt „Die Wächter der Zeit“ („The talking Guardians of Time“).