Donnerstag, 25. April 2024
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„Merkels Ritt auf der Rasierklinge“

Steven Hawking: Global goals Message

Die weltpolitische Situation ist dramatisch: Krieg, wirtschaftliche Ausbeutung, Glaubenskriege und radikale Ideologien sorgen für krisenhafte Fluchtbewegungen. Diese erste große Welle der Fluchtbewegung trifft nun als Kriegsfolge aus Ländern wie Afghanistan, Pakistan, Syrien, Irak und anderen Krisenländern bei uns ein. Vor allem die „vergessenen Europäer“ im Westbalkan sind nun auf der Flucht. Allein in Syrien sind 12 Millionen Menschen auf der Flucht.

Steven Hawking: Global goals Message
Steven Hawking: Global goals Message – 18.9.2015 – Bild: Screenshot YouTube

Fünf Prozent sind schon in Europa angelangt. Doch insgesamt befinden sich rund 60 Millionen Menschen auf dem Planeten Erde auf der Flucht. Es ist eine gigantische Herausforderung für die ganze Welt.

Die nächste große Fluchtwelle baut sich in Afrika auf: ein massiver Wohlstandszuwachs und die Verbreitung von Smartphones sorgt bis in alle Winkel des Kontinents plötzlich für weltweite Information, Hoffnung und Mobilität. Gleichzeitig wird der neue Wohlstand durch Verdrängung von armen, schwachen und perspektivlosen Menschen verteidigt. Schlimmer noch: junge Männer und auch ältere Männer lassen ihre Familien zurück, und sorgen durch Flucht für noch vergrößerte Not vor Ort.

Überdies ist Finanzverfassung auf dem Planeten völlig aus dem Ruder gelaufen: Gewinne werden mit „Digitalisierung“ erkauft, und in der Agrar- und Ernährungswirtschaft werden Preise unter das Existenzniveau der Bauern gedrückt.

Die Dimensionen der weltpolitischen Krise sind scheinbar bisher noch nicht richtig erkannt worden. Die Regierung handelt scheinbar nicht nach einem vorausschauende und verantwortungsvollen Konzept.

Doch wer sich die Internetseite des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ( BMZ) ansieht, kann schon erkennen worum es geht: Zukunftscharta EINE WELT Unsere Verantwortung. Vor allem der Bundesentwicklungsminister Gerd Müller mahnt und fordert eine Wende im Denken.

Zukunftscharta EINEWELT unsere Verantwortung
Zukunftscharta EINEWELT unsere Verantwortung – Gemeinsames Abschlussfoto 24.11.2014 mit Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und Bundesminister Dr. Gerd Müller mit Jugendlichen auf der Bühne
Quelle: Michael Gottschalk/photothek.net

Müller: Europa hat versagt

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hat sich in einem ZDF-TV-Interview klar geäußert. Er sagt: „Europa versagt vollkommen“!

Die Flüchtlingswelle hält an, inzwischen ist die Phase der Euphorie am Abklingen – Mahnungen und Warnungen vor einer Überforderung des Staates und seiner organisatorischen und logistischen Fähigkeiten mehren sich.

In der folgenden Presseschau werden die wichtigsten Kritikpunkte nachgezeichnet und mit Links und Zitaten belegt.

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Bundesregierung hatte schon im Frühjahr Warnungen auf dem Tisch

„Schon im Frühjahr warnte die Bundespolizei die Bundesregierung wegen der wachsenden Flüchtlingszahlen. Doch die setzte seinerzeit andere Prioritäten – mit dramatischen Folgen für Deutschland.“ Das schreibt WELT online in einem Beitrag von Stefan Aust und fünf weiteren Autoren, der auch als scharfe Kritik an der Bundesregierung zu verstehen ist.

Politik „Eine Million Flüchtlinge“: Regierung wusste im Frühjahr Bescheid – und tat nichts | 20.9.2015 | WELT online. Die Folgen dieser Versäumnisse treffen am Ende alle Bürgerinnen und Bürger: ob bei der Versorgung mit Wohnraum, bei der Schaffung von Perspektiven, Bildung und Arbeit:

„… die Bundesrepublik steht nicht nur in organisatorischer und politischer Hinsicht vor der größten Herausforderung seit der Wiedervereinigung. Auch in finanzieller Hinsicht ist die Bewältigung der Flüchtlingskrise eine riesige Aufgabe. Die veranschlagten Kosten gehen bereits in die Milliarden. Aufgrund der sich abzeichnenden Mehrausgaben hat Finanzminister Wolfgang Schäuble nun Pläne für eine größere Steuersenkung begraben. Schäubles Beamte wollten die Einkommensteuer senken, um Bürger zu entlasten. Daraus wird nichts mehr.“

Flüchtlingskrise deckt Schwächen auf

Inzwischen gibt es eine wachsende Kritik an Bundesinnenminister Thomas de Maizière: „Schlechte Vorbereitung“, „fehlende Ordnung“, „Tatenlosigkeit“. Der angeschlagene Bundesinnenminister kontert dann stets mit der Ausnahmesituation seit Anfang August. Seitdem sei „erstklassig improvisiert“ worden, verteidigte sich der CDU-Politiker bei „Anne Will“ in dieser Woche. Es gebe „veritable Sicherheitsgründe“ zu gucken, wer da eigentlich ins Land komme.“

Doch schaut man hinter die Kulissen von Polizei, Bundespolizei und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, so wird klar, die Flüchtlingskrise deckt eklatante Schächen auf, wie Manuel Bewarder, Florian Flade und Martin Lutz schreiben:

Politik Innere Sicherheit: Flüchtlingskrise deckt Schwächen des deutschen Staates auf | 20.9.2015 | WELT online.

Hatte Nietzsche Recht?

Der konservative Kolumnist Alexander Grau widmete sich in seiner wöchentlichen Kolummne „Grauzone“ dem Thema „Empathie“. In seinem Beitrag im Magazin CICERO vermeldete er: „Nietzsche hatte Recht“. Grau verweist darauf, dass auch Gauner auf Empathie setzen, und uns die Medien eine „simulierte Nähe“ vermitteln.

Grau zitiert Nietzsche: „Wo heute Mitleid gepredigt wird – und, recht gehört, wird jetzt keine andere Religion mehr gepredigt – möge der Psycholog seine Ohren aufmachen: durch alle Eitelkeit, durch allen Lärm hindurch … wird er einen heisernen, stöhnenden, echten Laut von Selbstverachtung spüren“.

Grau weiter: „Nietzsches Argument: Der Mensch der Moderne ist selbstverliebt und eitel. Und weil er es ist, ist er permanent mit sich unzufrieden. In der modernen Selbstoptimierungsgesellschaft wird die Unzufriedenheit zum Dauerzustand. Also beginnt der Mensch zu leiden. In einer Gesellschaft aber, in der alle leiden – vor allem an sich selbst – wird die Fähigkeit zum Mitleiden fast zwangsläufig zur höchsten Norm: Mitleid geboren aus Selbstmitleid.“

Emotionsgeladene Flüchtlingsdebatte: Nietzsche hatte recht | 19.9.2015 | von Alexander Grau | Cicero.

Refugium Buch in der Groscurthstr. 29
Refugium Buch in der Groscurthstr. 29

Wie lupenrein ist deutsche Humanität?

In der Frankfurter Allgemeine Zeitung bezog Autor Christian Geyer Position gegen das Kanzlerinnenwort „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Merkels Asylpolitik Willkommen im Land des Lächelns | Christian Geyer| 7.9.2015 | FAZ.

Geyer nimmt die Kanzlerin in die Pflicht: „Dass die Kanzlerin meint, mit solchen rhetorischen Eskapaden in der Flüchtlingskrise durchzukommen, schafft freilich nicht das Vertrauen, auf das es jetzt ankäme. Der Kredit, den ihre Politik der herzbewegenden Bilder genießt, ist schnell verspielt. Der bürgerliche „Außerordentlichkeitsbedarf“ (Odo Marquard) lässt sich nicht auf Dauer stellen. Merkels Pull-Rhetorik („Ich sage wieder und wieder: Wir können das schaffen, und wir schaffen das“) wird nur dann nicht als Abenteuerei gegen sie ausschlagen, wenn diese Rhetorik nun rasch in eine rechtsförmige Pragmatik mündet, die erhebliche zusätzliche Mittel lockermacht, um die Erstaufnahme der Flüchtlinge in den Griff zu bekommen und die Asylverfahren rund ums Bleiberecht zu verkürzen, effektiver zu gestalten.“

Merkel ruiniert Europa

Die härteste Kritik kam in dieser Woche von Alan Posener, der französische Kritik an Kanzlerin Merkel aufgreift: „Angela Merkels neueste Wende in der Flüchtlingsfrage wird nur diejenigen überrascht haben, die diese Meisterin der Wendigkeit nicht kennen. Tatsächlich sind Inkonsequenz und Unberechenbarkeit die einzigen Konstanten in ihrer Karriere.“

Die Welt ESSAY: Alan Posener Merkel ruiniert Europa | 16.9.2015 | WELT.

Poseners Kritik gipfelt in dem Satz: „Es kommt [ … ] gar nicht darauf an, ob man die von Merkel verfolgte Politik im Einzelnen gut oder schlecht findet, ob man für oder gegen die unbegrenzte Aufnahme syrischer Flüchtlinge, die Abschaltung von Atomkraftwerken und die Energiewende, die Austeritätspolitik gegenüber Griechenland oder den Sturz Gaddafis ist. Es kommt darauf an, dass sich Merkel dabei wie eine Elefantin im Porzellanladen benimmt und ohne Rücksicht auf Verträge, Gesetze und Absprachen agiert, wodurch die Basis der Europäischen Union – das verbindliche Recht und die geteilte Souveränität – zerstört wird.“

Merkel´s Ritt auf der Rasierklinge

Die Bundestagsabgeordnete Veronika Bellmann (MdB CDU) äußert sich in einem Gastbeitrag im Handelsblatt in ähnlich scharfer Form:
„„Konzeptionslos“, „ordnungspolitischer Offenbarungseid“.
Die CDU-Abgeordnete Bellmann lässt kein gutes Haar an Merkels Flüchtlingspolitik. In ihrem Gastbeitrag warnt sie vor den Folgen für Deutschland und die Union.

Gastbeitrag zur Flüchtlingskrise:
„Merkels Ritt auf der Rasierklinge“ | Veronika Bellmann | 19.09.2015 | Handelsblatt.

Bellmann fragt: „Ich weiß nicht, warum wir in Deutschland immer von einem Extrem ins andere fallen müssen, das Augenmaß verlieren und nicht das Ende bedenken. Die Kanzlerin hat gegen ihren sonstigen eher bedachten Führungsstil durch verordnete Kehrtwenden eine Schippe drauf gelegt. Sie hat die Welt zwar damit verblüfft, den Flüchtlingen international sozusagen den Marschbefehl gegeben, den politischen Gegnern der Wind aus den Segeln genommen, aber so manchem Stamm-Unionisten ohne Vorwarnung den Boden der politischen Heimat unter den Füßen wegezerrt. Ist das ihre persönliche Überzeugung, Strategie oder Machtinstinkt oder alles zusammen? Man kann das bewundern, die Auswirkungen bleiben aber ein Ritt auf der Rasierklinge, nicht nur für die Union.“

Und sie fragt nach der Berechenbarkeit der Kanzlerin: „Als vergleichsweise wenig Asylanten im Lande waren und man mit den Nichtintegrationswilligen der zweiten und dritten Einwanderergeneration zu kämpfen hatte, sagte die Kanzlerin noch, „Multikulti“ sei gescheitert. Jetzt wo die ganze Welt eingeladen ist, soll das plötzlich funktionieren und natürlich alles ganz ohne „deutsche Leitkultur“. Selbst zwei gut integrierte syrische Ärzte aus einer Klinik meines Wahlkreises sagen: „Die Deutschen sind völlig verrückt und sich der Konsequenzen nicht bewusst.“

Hat Kanzlerin Merkel doch einen Plan?

Das Jahr 2015 bringt in mehrfacher Hinsicht eine Zeitenwende. In diesem Jahr findet noch im November eine wichtige Weltklima-Konferenz in Paris statt. Zugleich steht die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel der Gruppe der G7-Staaten vor. Im Rahmen der Vorbereitungen für den Gipfel von Elmau wurde bereits gemeinsam die Zukunftscharta EINE WELT eine Verantwortung auf den Weg gebracht. Gleichzeitig wird mit der G7-Abschlußerklärung von Elmau der Post-2015-Prozess auf den Weg gebracht.

Ein Wort von Kanzlerin Merkel steht schon lange im Raum:

„Wir sehen unsere G7-Präsidentschaft … als eine Chance an, gerade auch auf die Post-2015-Agenda hinzuwirken. Wir wollen in Deutschland eine globale Partnerschaft initiieren, die nicht nur auf dem Papier steht, sondern die sich auch im Alltag von möglichst vielen Menschen auswirkt (…) (Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem EINEWELT-Zukunftsforum in Berlin).

Wohin die Reise geht, scheint vielen Menschen noch nicht klar zu sein, aber wir können dafür eine Formel finden: „Es geht auf den Weg eines verantwortlichen weltweiten Humanismus!“

Die Redaktion schaut schon einmal 5 Tage voraus, was vor uns liegt:

„On September 25th 2015, 193 world leaders will commit to 17 Global Goals to achieve 3 extraordinary things in the next 15 years. End extreme poverty. Fight inequality & injustice. Fix climate change. The Global Goals for sustainable development could get these things done. In all countries. For all people.“

Hier geht es in Zukunft entlang: www.globalgoals.org. Und diese wichtige UN-Welt-Klimakonferenz steht vom 30. November bis 11. Dezember 2015 bevor. Es ist die 21.Weltklima-Konferenz und zugleich das 11. Treffen zum Kyoto-Protokoll (Nähere Infos: wikipedia).

Die aufgeflammte Kritik an Bundeskanzlerin Merkel und die innenpolitischen Debatte um die aktuelle Flüchtlingskrise könnte sich noch in eine ganz andere Richtung auflösen: „Endlich werden die politischen Energien, Finanzkraft, Kreativität und Ressourcen freigesetzt, die unittelbar und direkt und unabdingbar für eine weltweite Krisenbewältigung in unseren „EINEN WELT notwendig sind!“