/// Kolumne /// – Bettina Jarasch, Mitglied des Bundesvorstands von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, sowie Sprecherin des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken in Grundsatzfragen hat eine neue Kopftuchdebatte angestoßen. 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechte in Deutschland ist es nun an der Zeit, neu über alte Grundsatzfragen nachzudenken. Warum sollten Frauen nicht auch das Recht der freien „Kopftuchwahl“ bekommen – etwa beim Erbsenschälen?
Warum sollten vor allem Lehrerinnen durch ein staatliches Neutralitätsgesetz in der Freiheit der „Kopftuchwahl“ eingeschränkt werden?
153 Jahre Frauenbewegung –
Wer kann sich noch erinnern, wie mühsam Frauen um Bildung, Arbeit und Berufsausbildung gekämpft haben? Wer weiß noch, wie weit der Weg zur Gleichberechtigung im Wahlrecht war? Wer kann sich an die kämpferischen Gesichter jener Frauen erinnern, die der Ära der Säkularisierung die Krone des frauenpolitischen Selbstbewußtseins aufgesetzt haben? Selbst als Mann erinnere ich mich!
Vor 152 Jahren fing es an! Vor 152 Jahren wurde anlässlich einer Frauenkonferenz vom 16.-18. Oktober 1865 in Leipzig der Allgemeinen Deutsche Frauenverein e.V (ADF) gegründet. Und es wurde hier zum 150. Jahrestag in der Pankower Allgemeine Zeitung daran erinnert.
Es war eine Zeit, in der die modernen Massenmedien in Form von Flugblättern und Zeitschriften aufkamen, die Ungleichzeitigkeiten und Unterschiede in der Gründerzeit, zwischen alten Adelsgesellschaften und der Agrargesellschaft und der entstehenden Arbeiterklassen und den Stadtgesellschaften einebneten. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren die Forderungen, die Voraussetzungen zugleich für die Entstehung von Demokratie und sozialer Stabilität.
Demokratieprinzip und Chancengleichheit
Nach dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 S.1 GG) soll alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen. Die politische Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen geht „von unten nach oben”. Wie kommt es zustande, dass Politikerinnen dem Volk neue Kopftuch-Trageregeln an Schulen vorschlagen, und sich selbst dabei ermächtigen, obwohl sie selbst niemals Kopftuch tragen?
Stellen das Verbot religiöser Äußerungen an Schulen, die Schulpflicht und das Neutralitätsgebot nicht auch eine zivilisatorische Errungenschaft dar, die Schülerinnen und Schüler vor historischen Rückentwicklungen schützen soll? Erfordert der Gleichheitsgrundsatz nicht auch die Neutralität der Lehrkraft als Amtsperson? Müssen Lehrer allgemein ihre Äußerungen in amtlicher Funktion oder als Privatperson voneinander trennen?
Erfordern Chancengleichheit und Demokratieprinzip nicht auch, dass Kinder selbst eine Wahlfreiheit zu einem Glaubensbekenntnis selbst entwickeln sollen? Oder soll Religion wieder zu einer reinen Entscheidung nach Geburt werden?
Kann sich religiöse Vielfalt unter dem Grundgesetz entfalten, weil die Freiheit der Wahl mit geschützt wird? Und wird gesellschaftlicher Friede gerade dadurch gesichert, dass keine Religion höher als die andere gestellt wird, und Staatsdiener sich im Dienst neutral zurückhalten?
Das Bundesverfassungsgericht hat bisher die Verfassungsordnung verteidigt und die Pflicht zur staatlichen Neutralität für Amtspersonen bejaht.
Toleranzedikte und Freiheitrechte
Die Neutralitätspflicht des Staates stellt eine der bedeutendsten historischen Errungenschaften der Säkularisierung dar, die in Europa unter hohem Blutzoll erkämpft wurde. Erstmals mit Edikt am 13. April 1598 in Nantes, versuchte Heinrich IV. das Land zu befrieden. Es gewährte Calvinisten Gewissensfreiheit und freie Religionsausübung in der Öffentlichkeit, ausgenommen in Paris und Umgebung sowie in Städten mit Bischofssitz oder königlichen Schlössern. Adligen Hugenotten wurden nichtöffentliche Gottesdienste in ihren Häusern gestattet. Es war der historische Schritt, Religion als „Privatsache“ zu definieren, um so zugleich „Glaubensfreiheit“ zulassen. Zugleich entstand die Auffassung, freie Religionsausübung in der öffentlichkeit gesetzlich auch als Freiheitsrecht zu definieren.
In der Reihe wichtiger Edikte ist das Brandenburgische Toleranzedikt von 1664 von Kurfürst Friedrich Wilhelm I. zu nennen. Es verbot den Lutheranern und den Reformierten (Calvinisten), namentlich ihren Theologen, öffentliche Kritik von der Kanzel an den Lehren der jeweils Andersgläubigen zu üben. Ein Verbot, das den Glaubenskrieg zwischen den christlichen Religionen beendete.
Voltaire war einer der ersten, der sich 1763 öffentlich für Toleranz aussprach, und erst nach der Revolution von 1789 setzten sich die umfassenden bürgerlichen Freiheitsrechte durch, die sich bis zur heutigen Form in unserer Verfassung entwickelten. Das Glaubensbekenntnis wurde Privatsache. Das Neutralitätsgebot in der Schule wurde als Ergebnis einer langen historischen Entwicklung der Rechtsgüterabwägung eingeführt.
Die Rechte der Lehrerin und die kollidierenden Grundrechte der Eltern sowie Schülerinnen und Schüler müssen miteinander vereinbar sein, um Schulpflicht und Lehrauftrag erfüllen zu können. Zwischen Lehrern im staatlichen (Pflicht-)Unterricht und im Religionsunterricht an öffentlichen Schulen (Art. 7 Abs. 3 GG) kann dabei ein Unterschied gemacht werden, weil die Teilnahme am Religionsunterricht freiwillig ist.
UNESCO Toleranzkonvention und Islam
Die universelle Definition der UNESCO Toleranzkonvention ist heute weltweite Leitlinie, da sie von allen UNESCO-Mitgliedsstaaten ratizifiert wurde:
„1.1 Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Gefördert wird sie durch Wissen, Offenheit, Kommunikation und durch Freiheit des Denkens, der Gewissensentscheidung und des Glaubens. Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg. Sie ist nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit. Toleranz ist eine Tugend, die den Frieden ermöglicht, und trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden.“
Schon unsere eigene politische Praxis hat sich davon weit entfernt, wie schon zu Jahresbeginn 2015 kritisiert wurde: Toleranz & Schlagworte.
Wieviel weiter vom Gebot der Toleranz entfernt sind all jene muslimischen und radikal-islamistischen Zeitgenossen, die vom Dschihad [dʒiˈhaːd] reden, oder für den Kampf gegen Ungläubige eintreten?
Ist fehlender Respekt das eigentliche Problem?
Ist die Frage der Kopfbedeckung das Problem – ist die Art des Kopftuchs entscheidend? Oder sind vielmehr fehlender Respekt und fehlende Anerkennnung gegenüber der deutschen Kultur und dem Schulgesetz, das eigentliche Problem, weshalb uns das Kopftuch zum religiösen und politischen Symbol und zum Streitpunkt werden lässt?
Sind immer erst Respekt und Annerkennung für die Kultur einzufordern, bevor sich umfassende Toleranz entfalten kann? Ist damit die Beweislast bei jenen, die das Kopftuch als politisches Symbol und als Instrument der Mission und Unterdrückung mißbrauchen? Und ist das Entstehen von Paralelgeellschaften vielleicht dem noch fehlenden Respekt geschuldet, der zu ihrem vormodernen Abgrenzungsverhalten führt?
Welche politischen Koordinaten bestimmen die Politik?
Müssen deutsche Politikerinnen erst wieder mit den Gedanken konfrontiert werden, dass das Neutralitätsgebot keine Form der Stigmatisierung ist, sondern Voraussetzung für das Erlernen der komplizierten Regeln des Zusammenlebens?
Sind Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und Gleichheit vor dem Gesetz universelle, unteilbare Werte? Oder sollen wir die Unteilbarkeit dieser Werte aufgeben?
Wenn Politikerinnen wie Daniela Kaya, Landesvorsitzende der AG Migration und Vielfalt in der SPD Berlin, die Neutralitätspflicht des Staates als „Stigmatisierung“ begreifen, dann versteht sie offenbar „unsere“ Welt und Kultur selbst nicht mehr!
Jene jungen Muslima, die das „Neutralitätsgebot“ des Staates in der Schule als „Berufsverbot“ mißverstehen, haben damit auch die grundlegende Befähigung zum Lehramt verfehlt!
Wäre es nicht ihre Aufgabe, zuerst Respekt für unsere Kultur und Gesetze einzufordern, und der Verwendung von öffentlich getragenen Kleidungsstücken als politisch-religiösen Symbole entgegen zu treten?
Und wenn Jarasch sagt: „Was wir brauchen, sind Regelungen, die religiöse Manipulation wirksam ahnden, anstatt einen Kulturkampf um das Kopftuch zu führen“, dann sollte sie sich fragen, was eigentlich die Regelungen und Voraussetzungen an einer Schule sind, damit Kinder überhaupt „Respekt“ erlernen!
Die Schule muss ein Freiraum sein, in dem Kinder vor religiöser Manipulation geschützt sind, und ein Raum, an dem gelernt und nicht missioniert und manipuliert wird!
Der einzige Raum in Schulen, in denen eine Pflicht zur Kopfbedeckung besteht, sind die Küchen der Gemeinschaftskantinen, in denen die EU-Hygieneverordnung und die HACCP-Richtlinien* gelten.
Womit die Antwort gegeben ist: „Nur Frauen mit Kopfbedeckung dürfen in der EU Erbsen schälen!“
Weitere Informationen:
UNESCO-Projektschulen – Deutsche Unesco-Kommission
HACCP* = Hazard Analysis and Critical Control Points