/// Kommentar /// Die Debatte um die Einleitung eines Strafverfahren wegen Verdacht des Landesverrats gegen zwei Journalisten und Blogger von Netzpolitik.org geht weiter. Inzwischen wurde Generalbundesanwalt Harald Range in den einstweiligen Ruhestand versetzt.Bundesjustizminister Heiko Maaß (SPD) steht nun auch in der Kritik – ein offener Widerspruch zwischen Range und Maaß ist ungeklärt. Und auch gegen den Auslöser der „netzpolitik-Affäre“ wendet sich jetzt die öffentliche Kritik: Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz.
Dessen Dienstherr Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) dürfte nicht ganz unbeteiligt sein, und muss sich selbst auf schwierige Nachfragen vorbereiten.
Skurriler Kontrapunkt: gestern wurden die beiden Journalisten von netzpolitik.org, Markus Beckedahl und Andre Meister, als „Blog für digitale Bürgerrechte“ im bundesweiten Wettbewerb „Land der Ideen“ von der Bundesregierung prämiert. Schirmherr ist der Bundeswirtschaftsminister Siegmar Gabriel (SPD).
Währenddessen weitet sich die Debatte aus, Politiker kritisieren jeweils wechselnde Personen und fordern sogar Rücktritte. Berlins Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) kritisiert Bundesjustizminister Maaß und wirft diesem Zögerlichkeit vor. Der SPD-Netzpolitiker Klingbeil wiederum kritisiert Bundesinnenminister de Maizière und wird diesem „Wegducken“ vor.
Die Opposition fordert sogar Maaßens Rücktritt. Sowohl Renate Künast (Grüne), Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag, als auch der Vorsitzendeder Bundestagsfraktion Bernd Riexinger (DIE LINKE) sprachen sich dafür aus. Auch die Forderung nach einem Untersuchungsausschuß wurde schon in den Raum gestellt.
Riexinger fordert in einem Beitrag des „Handelsblatt“: „Die Entlassung von Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen ist überfällig, er hat die ganze Landesverratsaffäre mit seiner Anzeige erst angestoßen.“
Die „netzpolitik-Affäre“ weitet sich so immmer weiter aus, und wirft immer neue Fragen auf. Es sind wichtige Fragen nach geltenden Verfassungsgrundsätzen, wie Pressefreiheit und Befugnissen von Geheimdiensten. Aber auch Grundfragen von Gewaltenteilung und dem Schutz verfassungsmässiger Rechte der Bürger stehen auf der Agenda.
Staatskrise beim Übergang in den digital verwalteten Staat
Die „netzpolitik-Affäre“ kann als isolierte Affäre betrachtet werden. Aber aus einer historischen Perspektive stellt sich die Affäre als „Symptom einer Übergangskrise“ dar:
Wir haben eine „digitale Staats- und Verfassungskrise“, weil wichtige juristische, verfassungsrechtliche und politische Kategorien und Werte durch digitale Technologien „hinterwandert“ werden. Die Konstitution der Demokratie mit Privatheit, Öffentlichkeit und Gewaltenteilung ist längst tiefgreifend in Frage gestellt. Der Einfluss digitaler Dienste und die Vernetzung mit dem Internet schaffen neue Übergangsprobleme, die einer grundsätzlichen Betrachtung bedürfen.
Beim Übergang vom analogen Rechtsstaat zum digital verwalteten Rechtsstaat entwickeln sich völlig neuartige Interdependenzen und „Interferenzen“. Diese stellen das Prinzip der Gewaltenteilung informell und politisch auf die Probe.
Konflikte werden nun geradezu im Wortsinne „programmiert“. Entweder öffentlich per politisch gestalteten „Design“ – oder heimlich, durch Techniker, Spezialisten und Hacker im Hintergrund. Oder durch Tun und Unterlassen. Der Beschleunigungseffekt von Echtzeit-Kommunikation und medialer Echtzeit-Verbreitung sorgt zudem für eine „Dissoziierung“ von Verantwortung und gut abgewogenen Entscheidungsverhalten.
Damit steht das Vertrauen in die Souveränität von wichtigen handelnden Personen und die Integrität von politischen Institutionen und wichtigen staatlichen Institutionen auf dem Spiel. Ein nicht hinnehmbaer Zustand droht:d as „digitale Chaos“ und das „Chaos überforderter Köpfe“ machen den Staat in wichtigen Bereichen handlungsunfähig, sorgen für Entscheidungsunsicherheit und fragwürdige taktische Begründungsnöte.
Mit dem Bekanntwerden der umfassenden Abhörtätigkeit durch NSA, GCQH und anderer Dienste ist eine umfassende Vertrauenskrise eingetreten, die sich auch bis in private, öffentliche, wirtschaftliche und politisch-staatliche Bereich auswirkt. Grundfragen staatlicher Legitimation sind berührt, wenn Kanzlerin und praktisch das gesamte Kabinett durch Dritte in Echtzeit abgehört werden.
Für einen demokratisch verfassten Rechtsstaat tritt damit ein neuer Ernstfall ein, der nicht allein mit juristischen und politischen Mitteln mehr lösbar ist, sondern nur mit einer neuen „Politik der digitalen Dienste“, die grundlegend neu gestaltet werden muss.
Gelingt es dabei nicht, ein Konzept für die Aufrechterhaltung von Vertrauen, Privatheit, Öffentlichkeit und berechtigte Geheimhaltung und Zuständigkeit zu schaffen, ist auch die Integegrität staatlichen Handelns berührt. Der kommende „digital-verwaltete Staat 4.0“ wird dann womöglich zum „Staat der Dauerkrise“ – und ein unglaubwürdiger, handlungsunfähiger Staat.
Der Weg aus dem Chaos muss erarbeitet und konzipiert werden
Will man die Übergangsprobleme beim Übergang von analogen Staat zum „digital-verwaltete Staat 4.0“ lösen, so müssen auch grundlegende Auswirkungen von Vernetzung, Echtzeitkommunikation und medialer Verbreitung neu bedacht werden.
Die Prinzipien von Gewaltenteilung, Souveränität und Integrität verlangen etwa auch nach „Entschleunigung“ von krisenhaften Vorgängen, um Fakten und Wissen sorgfältig prüfen zu können, bevor Entscheidungen getroffen und publiziert werden.
Doch nur bei schnellen Sportarten wie dem Hockey und Eishockey gibt es so etwas wie das „Bully“, das mit Hilfe des Schiedrichters eine Spielpause und einen Neustart des Spiels ermöglicht.
Auch Begriffe wie Geheimhaltung wandeln sich in der digitalen Welt. Galt bisher der Zugang zu Wissen als begrenzender Faktor, so ist künftig jede Digitalisierung bereits eine Form „unkontrollierbarer Veröffentlichung“, weil das Internet weltweit von Diensten überwacht wird.
Die Digitalisierung überwindet klassische Arbeitsteilung und Gewaltenteilung – und hat damit eine neue „Büchse der Pandora“ geöffnet. Die Affäre um netzpolitik.org hilft, um die Struktur der digitalen Staatskrise im prägnanten Einzelfall zu erblicken.
Doch neben der Affäre um nezupolitik.org gibt es noch andere Affären und Themen mit weitreichenden strukturellen Implikationen: NSA-Affäre, die Frage der Vorratsdatenspeicherung, Big-Data und Persönlichkeitsschutz – sowie digitale Methoden der Diskriminierung und Ungleichbehandlung der Bürger. Auch digital programmierte Verstösse gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gehören dazu, etwa wenn Suchmaschinen die Ausgabe von Informationan an angebliches „Nutzerverrhalten“ anpassen.
Es kann daher nicht mehr nur um kurzfristige Krisenbewältigung gehen, sondern um grundlegende Modernisierungsfragen, die über die bisher erklärte Politik der „digitalen Agenda“ hinausgehen. Die Übergangskrise vom analogen Staat zum digital verwalteten Staat – in einer global informell vernetzten Welt – muss als grundlegenden Herausforderung begriffen und bearbeitet werden.
Der Bundestag und die Bundestagsabgeordneten sollten ihre Kraft nicht in „Untersuchungsausschüssen“ über „Fragen der Vergangenheit“ verschwenden, sondern alle Kraft auf die Lösung von aktuellen Zukunftsfragen verwenden.
Auch Fragen von Geheimschutz, Schutz vor äußeren Angriffen und informellen Effekten der Digitalisierung müssen grundlegend neu bedacht werden.
Es empfiehlt sich, eine „Enquete-Kommission Bürgerrechte und Rechtsstaat 4.0“ einsetzen, und sich schrittweise an eine „Neukonstruktion“ des demokratischen Rechtsstaates mit „digitalen Diensten und Vernetzungen der Institutionen“ heranzuwagen.