Samstag, 20. April 2024
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Welcher Islam gehört zur europäischen Aufklärung?

Aufklärung & Islam

/// Kolumne /// – Mittlerweile leben in Deutschland zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime. Das entspricht ca. 5,4 bzw. 5,7% der Gesamtbevölkerung von 82,2 Millionen. Sunniten sind mit Abstand größte Glaubensrichtung (ca. 75%), gefolgt von Aleviten mit einem Anteil von ca. 13% und Schiiten mit einem Anteil von ca. 7%. Insgesamt gibt es nach Angaben des Bundesinnenministeriums rund 2.350 Moscheegemeinden in Deutschland, in ca. 2.180 islamischen Gemeinden ist ein Imam tätig. Ein Großteil der Imame wird nach wie vor aus der Türkei nach Deutschland befristet entsendet.

Die größten sunnitisch geprägten Dachverbände sind die Türkisch-Islamische Union (DITIB, ca. 900 Gemeinden), der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (inkl. Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, ca. 400 Gemeinden), der Verband der islamischen Kulturzentren (VIKZ, ca. 300 Gemeinden) sowie der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD, ca. 300 Gemeinden).

Daneben bestehen noch weitere konfessionell geprägte Dachverbände wie die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF, ca. 100 Gemeinden), die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden in Deutschland (IGS, ca. 140 Gemeinden) sowie die Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ, kein Dachverband), die in Pankow-Heinersdorf ihre Moschee gebaut hat.

Faktum: islamisches Leben und islamische Kultur sind in Deutschland präsent

Unbestreitbar: diese Gemeinden und ihre Mitglieder entfalten ihr Leben in Deutschland, und sind nicht durch politische Diskusssionen „wegzudiskutieren.“ Viele sind bereits eingebürgert und zahlen hier Steuern. Die aktuelle politische Streitfrage, ob der Islam zu Deutschland gehört, ist nicht mehr als ein „mediales und fiktionales Theater“, ein Politikmuster des wortreichen Aussitzens von Problemen.

Das wichtigste Problem: die aktuelle Zuwanderung überfordert auch die muslimischen Gemeinden, die eigentlich wichtige Partner in der Enkulturation und Integration von Zuwanderern sein können.

Doch wie sollen Muslime sich in eine Gesellschaft integrieren, in der sie weder ein Einwanderungsgesetz noch stringente Regeln für Zuwanderung, für Enkulturation und Integration vorfinden? Wie sollen Muslime erkennen, wenn immer nur von „Integration“, aber nicht von den konkreten Zielen und Anforderungen einer säkularen Gesellschaft gesprochen wird? Wie soll Orientierung entstehen, wenn sich politisch nur ein mediales Durcheinander wahrnehmen lässt, und wenn radikale Prediger und Populisten so alltäglich neue Konfliktthemen vorgelegt bekommen?

Was passiert, wenn Politiker die Grundlagen der eigenen Kultur selbst mißverstehen, und immer von christlicher Kultur und Prägung sprechen, nicht aber von den wichtigsten Errungenschaften der europäischen Aufklärung, die unseren heutigen Verfassungsstaat prägen und erst möglich machen? Was passiert, wenn universelle Prinzipien nicht mehr gelten, weil sie von vordergründigen politischen Interessen ignoriert werden?

Aufklärung tut not!

Politiker, die weder islamische Kulturen, noch religiöse Glaubensrichtungen im Islam und politischen Islam und Islamismus auseinander halten können, handeln selbst unverantwortlich. Das Horst-Seehofer-Wort „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ ist nicht mehr als „Heißluft-Rhetorik“, die gutes Regieren nicht ersetzen kann. Ignoranz und Wahlkampf-Rhetorik sind Gift für ein friedliches Zusammenleben.

Regieren bedeutet auch verantwortliches Reden und Handeln. Die Debatte um Islam, Muslime, Kultur, Traditionen und Rechtsauffassungen muss viel differenzierter geführt werden, als bisher!

Vor allem muss eine Debatte um Bildung und Kultur geführt werden, denn fast alle großen Problemlagen lassen sich auf fehlende Bildung, auf Analphabetismus und kulturelle Ungleichzeitigkeiten zurück führen. Menschen mit ihren Unvollkommenheiten und Schwächen müssen auch den passenden den Rahmen für individuelle Entfaltung Bezüge für die zeitweilige oder dauerhafte Integration und Enkulturation finden.

Kurz: die Zuwanderer und hierzeit weilig Asyl-Suchenden müssen individuell entsprechend ihrem Bildungsstand und ihrer kulturellen Herkunft „abgeholt“ und eingebunden werden.

Vor allem muss die Irreführung der Zuwanderer und Schutzsuchenden beendet werden, wir seien als Staat allein durch die christlich-jüdische Tradition geprägt. Als Nation, als Kulturnation und Verfassungstaat mit einer schwierigen und mehrfach gebrochenen Geschichte sind wir vor allem durch die europäisch Aufklärung geprägt. Die Aufklärung hat jenes fragile Maß an Zivilisation ermöglicht, in dem Freiheit und Menschenrechte und wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit – aber auch Verantwortung und Selbstverantwortung Geltung haben.

Zur politischen Verantwortung gehört, keine „politischen Spiele und medialen Inszenierungen“ gegenüber sehr heterogenen Zuwanderern aus sehr unterschiedlichen Kulturen zu veranstalten. Unsere Politik weiß genau: Selbstverantwortung und Selbstsorge setzen Aufklärung und Emanzipationsprozesse erst voraus.
Wer jungen Zuwanderern und Analphabeten keine Arbeit und Orientierung gibt, sondern sie in einer fernen Zivilisation sich selbst überlässt, macht sich selbst mitverantwortlich, wenn sie ausbrechen und in Kriminalität abdriften.

Zur Aufklärung gehört auch, die ureigene islamische Aufklärung und Koranauslegung anzuerkennen, die zum Teil auch unsere antike Geschichte mit beeinflusst hat, und heute hinter einer politisch-ideologischen Debatte um Terrorimus und (politischen) Islamismus völlig zu verschwinden droht.

Die dringende Suche nach einer islamischen Aufklärung wird so behindert und verzögert, weil Ideologie und Kampfformeln und Autokraten die notwendigen Diskurse verhindern können.
Islamgelehrte raten es längst: Müssen Muslime nicht selbst auch nach ihrer Aufklärung suchen, die doch historische Wurzeln in der gemeinsamen Zeit der Spätantike im Mittelmeerraum und Vorderasien hat?

Warum ignorieren wir selbst die größte Errungenschaft der modernen Aufklärung?

Vor über zwanzig Jahren hat die 28. Generalkonferenz die UNESCO-Toleranzkonvention verabschiedet, die von fast allen Mitgliedstaaten der UNESCO verabschiedet wurde.

Es ist das umfassende Konzept, mit dem eine friedliche Zivilisation auf dem Planeten Erde angetrebt werden kann, das auch von arabischen Staaten ratifiziert wurde. Die UNESCO-Toleranzkonvention entfaltet ein umfassendes Konzept und Angebot für eine Zivilisation, in der alle Kulturen und Religionen friedlich nebeneinander koexistieren können.

Muslime, die diesen Prinzipien folgen, können wir als selbst als weltoffen charakterisieren und erleben. Umgekehrt leben viele Millionen Muslime längst in säkularisierte Welten, in den Religion „Privatsache“ ist, und im abgrenzbaren halböffentlichen Räumen verortet ist.

Respekt gegenüber Andersgläubigen ist die Mindesttugend – die das möglicht macht. Und besonders wir selbst müssen uns um Respekt gegenüber Zuwandern bemühen, bevor wir sie in unsere offene Gesellschaft einladen und integrieren können.

Zum Konzept von Toleranz gehört nicht nur Respekt, sondern auch Anerkennung der anderen Kulturen in unserer Welt. Zu dieser Anerkennung gehört, sich auch mit den kulturellen Details, und Auffassungen und Motiven hinter allen Konflikten zu befassen.

Nur so können im Dialog kulturelle Ungleichzeitigkeiten, fehlende Bildung und politische Spannungen überwunden werden.

Uns selbst mangelt an der nötigen Anerkennungs-Arbeit! Wir müssen uns auch fragen, warum die UNESCO-Toleranzkonvention heute in Europa und USA so kläglich ignoriert wird?

Moderne interkulturelle Konfliktforschung und Konfliktlösung

Zur modernen Aufklärung gehört auch eine moderne interkulturelle Konfliktforschung und Selbstkritik. Gemessen am Stand unserer Sozialwissenschaften leisten wir uns ein kläglich einfältige „Flüchtlingspolitik.“

Das machtpolitische und geostrategische Kalkül, jegliches Aufbegehren von Muslimen als „Islamismus“ und „Terrorismus“ zu brandmarken, ist in höchsten Maß von Arroganz geprägt. Es schafft hohe kulturelle und politische Spannungen und ist damit auch die Energiequelle für nimmer endende Konflikte.

Eine moderne interkulturelle Konfliktforschung würde fragen:

Wie können horizontale Spannungen zwischen Menschen und vertikale Spannungen zwischen geistigen, rechtlichen, kulturellen Konzepten gelöst werden, ohne unsere eigenen offenen Gesellschaften zu stören, oder sogar zu zerstören?

Die Antwort:
Wir müssen kulturelle Ungleichzeitigkeiten und Traditionen in den Blick nehmen, und dafür individuellen Ausgleich finden.

Kulturelle Eigenheiten wie Clanbildung, Stammesdenken, autoritäre paternalistische Führungsanerkennung, Unterdrückung und Ausbeutung der Frau, Analphabetismus bei Frauen, die als Mütter ihre Söhne nicht weiterbilden können, und alleinige Alphabetiserung und Katechisierung über Koranschulen stehen im Konflikt mit unserer durch die Aufklärung und Verfassungsstaat geprägten Kultur und Lebensweise.

Kultur der Aufklärung & Emanzipation
Aufklärung und europäische Kultur sind unsere wichtigste kulturelle Prägung.
Ein Angebot und Freiheitsversprechen für Zuwanderer – das nur nach individueller Emanzipation und Selbstverantwortung Früchte trägt – Und eine ewige Herausforderung für Muslime aus traditionellen Kulturkreisen – Grafik: m/s

Unser europäisch geprägtes Rechtsystem und die Wirtschaftsordnung sind auf das Ideal des freien Indiviuums ausgerichtet, auf freies Unternehmertum. Auch die Sozialordnung ist darauf ausgerichtet. Es ist ein Angebot an die Zuwanderer – und versammelt die Errungenschaften, Rechte und Werte der europäischen Aufklärung. Genau so muss auch unsere Kultur jedem Zuwanderer weltweit und hier im Land vermittelt werden.

Die von Konflikten betroffenen Muslime müssen selbst jene Ungleichzeitigkeiten und alten Traditionen überwinden, um hier auch Mitbürger zu werden.

Unser modernes Verständnis von Aufklärung und Bildung ermöglicht es, Muslimen bei der Überwindung von Unterschieden und kulturellen Ungleichzeitigkeiten zu helfen. Dies kann auch Hilfe und Unterstützung bei der Suche nach der modernen islamischen Aufklärung sein, die auch trotz aller Konflikte viele Gemeinsamkeiten mit dem europäischen Kulturverständnis aufweist.

Viele Muslime und manche Muslimgemeinden haben schon ihre Wege zur islamischen Aufklärung gefunden, die Toleranz, Respekt und Vielfalt zwischen den Kulturen einschließen.