Donnerstag, 28. März 2024
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Amtsschimmel & digitale Scheissprozesse im eGovernment

Digitaler Amtsschimmel

„Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess!“ – dieses zum geflügelten Wort gewordene Zitat von Thorsten Dirks, CEO der Telefónica Deutschland AG, weist den Weg in dringend notwendige neue Kritik-Ebenen an unserer bisherigen Technik-Entwicklung.

Die Digitale Agenda der Bundesregierung von 2014 bis 2017 hat hehre und scheinbar schlüssige Strategieansätze, doch in der Umsetzung und Praxis gibt es viele Mängel, und vor allem aber auch kaum heilbare Systemmängel und volkswirtschaftlich sträfliche Versäumnisse.

Ausgerechnet der für Verkehr und digitale Infrastruktur zuständige CSU-Minister Alexander Dobrindt (Amtszeit 17. Dezember 2013 – 24. Oktober 2017) hat bei wichtigen Kernaufgaben gepatzt, und beim volkswirtschaftlich entscheidenden Breitbandausbau strategisch versagt. Deutschland hat nun ein Stadt-Land-Problem und explodierende Mieten, auch weil es keinen Breitbandausbau gab, und Arbeitsplätze und Investitionen sich in rund 86 Ballungsräumen und Großstädten konzentrieren.

Vor allem aber hat Deutschland uneinholbar Wettbewerbschancen verspielt, wie man bei genauer Betrachtung der Schließung des berühmten Funklochs in Kleßen-Görne im Havelland erahnen kann. Während man in Deutschland die Aufstellung zweier provisorische Funkmasten feiert, betreibt ein chinesisches Unternehmen in Togo über 200 mit Solarenergie versorgte Funkmasten. Es ist eine Schlüsseltechnologie, die künftig für Smart Cities und für das Internet der Dinge benötigt wird.

Zugleich ist in der Amtszeit des CSU-Ministers Alexander Dobrindt auch das letzte große Solar-Unternehmen den Heldentod gestorben. Was wäre wohl passiert, wenn die Telekom rechtzeitig auf solargestützte Technologien umgestiegen wäre? Offenbar bremsen in Deutschland auch „politische Scheißprozesse“ und „Lobby-Scheissprozesse“ die Technologie- und Wirtschaftsentwicklung!


Themenwechsel nach Berlin. Ein Fall aus der Mailbox der Redaktion, der die Detailschärfe der Probleme bei der Digitalisierung der Verwaltung illustriert. Eine in Dresden gebürtige, im Raum Köln verheiratete Frau, hat 4 Jahre lang Afrika bereist, und ist inzwischen Berlinerin geworden. Bei Neuaufnahme eines sozialversicherungspflichtigen Jobs wird sie ohne Nachfrage vom Arbeitgeber bei der Lohnsteueranmeldung als „ev“ und Mitglied der evangelischen Kirche eingetragen. Der Kirchenaustritt war jedoch schon vor über 12 Jahren erfolgt, und amtlich bescheinigt worden. Um eine Korrektur beim Finanzamt zu erreichen, musste die Kirchensteuerstelle eingeschaltet werden. Eine beglaubigtes Abschrift einer mittlerweile 12 Jahre alten Austrittserklärung wurde nachgefordert. Doch dieses Dokument ließ sich wochenlang nicht auftreiben, auch das Berliner Bürgeramt war wenig hilfreich, weil das papierne Ursprungsdokument vom Bürgeramt einer Gemeinde ausgestellt worden war, die zwischenzeitlich nach Köln eingemeindet wurde.

Die Recherche nach dem Urdokument brachte schließlich Erfolg: es war ordentlich abgelegt, jedoch im ehemaligen Gemeinderegister, das aus Kostengründen nicht digitalisiert wurde. Nach zwei Monaten mühsamer Telefonate und Nachfragen konnte das „Beweisproblem“ des Kirchenaustrittes gelöst werden. Zwischenzeitlich zuviel gezahlte Kirchensteuer wurde im Monat vier nach Aufnahme der Tätigkeit zurück erstattet. Den zusätzlichen immensen Buchungs- und Abstimmungsaufwand zwischen Lohnbuchhaltung und beteiligten Stellen kann man sich noch zusätzlich vorstellen.

Der Fall illustriert ein Grundsatzproblem, weshalb die Digitalisierung und das eGovernment in Deutschland einfach nicht richtig vorankommen: „Jedes digitale Fachverfahren benötigt historisch bedingt noch immer analoge Quelldokumente, die erst für eine moderne digitalisierte Bearbeitung zugänglich und glaubhaft gemacht werden müssen!“

Wenn in großer Zahl analoge fremdsprachige Dokumente, aus Ländern mit fehlenden Geburtsregistern, in den Verwaltunggang kommen, die zudem mit mehr oder minder zweifelhaften „Konsularbescheinigungen“ unterfüttert werden, stößt jedes ordentliche eGovernment an organisatorische Grenzen.

Die Bundesregierung und die Große Koalition sind eigentlich gut beraten worden, denn der Normenkontrollrat hat im Oktober 2017 klar gefordert: „Digitalisierung der Verwaltung: zuerst die Register modernisieren!

Normenkontrollrat - Sitzung im Mai 2012
Normenkontrollrat – Sitzung im Mai 2012 – Foto: Screenshot

Berlin hat inzwischen eines der modernsten eGovernment-Gesetze in Deutschland, aber erst 2016 ist es gegen viele interne Widerstände in Bezirken und Personalräten gelungen, die Beschaffungsprozesse zu vereinheitlichen. Erst ab 2016 kann man sich in Berlin auf den Weg machen, die Folgen der „digitalen Kolonisierung der Verwaltung“ durch Microsoft-Produkte und schnelle Update- und Versionswechsel in den Griff zu bekommen.

In ganzen 30 Jahren Digitalisierung der Verwaltung wurden auch nie Diskussionen um veränderte IT-Paradigmen und Systemwechsel öffentlich geführt, die von Industrie Software-Herstellern von Außen vorgegeben wurden. So wurden zu Beginn der Microsoft-Word Ära und der Windows-Ära Client-Server-Architekuren favorisiert. Inzwischen hat das Paradigma des „Cloud-Computing“ die IT-Welt ergriffen – doch für das eGovernment und die sichere eAkte werden heute High Secure Data-Center (HSDC) mit besonders hohen Sicherheitsvorkehrungen benötigt, die nicht mehr mit Standardprodukten betreibbar sind.

Die Zunft der kommentierenden Journalisten versteht es offenbar nicht, hinter diese Kulissen zu schauen und erfindet immer neue Formen der „Politik- und Systembeschimpfung“, wie etwa zu Letzt Jan Fleischhauer, der Berlin als „Das Venezuela Deutschlands“ persifliert. Im Hamburger Spiegel-Haus an der Ericusspitze gibt es offenbar auch „journalistische Scheissprozesse“, weil Kommentatoren keine Bodenhaftung mehr haben, und nur noch „feuilletonische Sprechakte intonieren.


Mit der am 25. Mai 2018 endgültig in Kraft getretenen EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ist es soweit: Bürger, Öffentlichkeit, Journalisten, Politik und Parlament – und alle Lobby- und Branchenverbände müssen sich den „digitalen Scheißprozessen“ stellen! Strategische Versäumnisse müssen schnell aufgeholt werden, weil bei fehlender Datengrundlage auch keine neuen Synergien und volkswirtschaftliche Nutzen erlangt werden können.

Vor allem müssen die von der Politik als zu brisant liegen gelassenen Themen schnellstens auf die Tagesordnungen der zuständigen Parlamemtsausschüsse, denn es ist auch notwendig, Verfassungsänderungen bei der Einführung von Personen-Kennziffern und Firmenregistern durchzuführen.

Eine gewaltige Anstrengung wird notwendig, um „Bürokratische Dysfunktion und Bürokratie zu bekämpfen“ – denn wir haben in vielen Bereichen der staatlichen Kernaufgaben längst kafkaeske Verhältnisse. Auf die wichtige und konsequente Arbeit des „Normenkontrollrates“ unter der Leitung von Dr. Ludewig kann dabei als Ausgangsbasis zurück gegriffen werden.

Doch es muss noch weiter gedacht werden: der politische Prozess selbst muss verändert werden. Die Chancen der Plattform- und Sharing-Ökonomien erzwingen auch, bisherige Regulierungen für Märkte zu überdenken. Politisch gibt es dabei keinen Mangel an Meinungen und Diskussionen darüber, wie man die gemeinsame Wirtschaft regulieren kann. Doch ein ganz anderer Weg muss beschritten werden, der nur mit der in den Niederlanden entwickelten Kafka-Methode lösbar ist.

Die Kafka-Methode ist eine bewährte Forschungs- und Interventionsmethode zur Bekämpfung von dysfunktionaler Bürokratie. Die Methode wird als kurativ bezeichnet, weil sie auf die Diagnose der Ursache des Problems abzielt: Warum funktioniert die Politik nicht?

Unsere von Parteien und Meinungen geprägten Politikansätze in Parlamenten greifen nicht mehr, wenn wir die Digitalisierung im umfassenden Sinne nutzbar machen wollen, und volkswirtschaftlich zur Mehrung von Wohlstand einsetzen wollen.

Im weltgrößten „Urban Innovation Hub “ MaRS im kanadischen Toronto, hat man die Prinzipien der niederländischen Kafka-Methode übernommen und weiter entwickelt, um bei Innovationen über Meinungen hinauszugehen, um zu verstehen, was ein Problem wirklich ist.

Um Innovationen und Lösungsstrategien zu entwickeln, die über Tages-Debatten hinausgehen, um relevante Partner, Interessen und Akteure in konstruktive Gespräche einzubinden, müssen eine Vielzahl von Methoden genutzt werden, die Innovation und Kollaboration voran bringen. MaRS zeigt auch, wie weit Berlin und Deutschland zurück liegen, und noch in „politisch-zivilisatorischen Scheißprozessen“ festgebacken sind.


Nachtrag:
„Ihre Anfrage zu Internet of Things mit der Deutschen Telekom vom 28.7.2018“: „Einer unserer IoT-Experten wird sich schnellstmöglich mit Ihnen in Verbindung setzen, um Sie individuell zu beraten.“ – Heute ist der 17.8.2018 – und ein weiterer digitaler Scheißprozess bei der TELEKOM hängt fest!

Weitere Informationen:

In einer Reihe von Beiträgen wird dem Thema eGovernment und Digitalisierung nachgegangen und ein weißer Elefant im Raum aufgespürt, der von Politik und Branchenverbänden bisher ignoriert wird. Dies obwohl sich die Bundesregierung in ihrer Digitalen Agenda darauf vorbereitet hat.

Kontakt zur eGovernment-Redaktion: info@berlin-mitte-zeitung.de