/// Kommentar /// – In der Politik geht nicht mehr um Wahrheit, sondern um „Narrative“, Erzählungsmuster, die sich gut in Talkshows und Medien verkaufen lassen. Ausgerechnet Andrea Nahles (SPD) Bundesministerin für Arbeit und Soziales schraubt nun an einem neuen „Narrativ“ zur Armutsdefinition herum, und will eine „sachlichere Debatte“ ermöglichen.
In einem Interview für die Süddeutsche Zeitung gab sie kund, sich im neuen geplanten „Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ mit den Auswirkungen von Reichtum für die Gesellschaft auseinanderzusetzen:
Arbeitsministerin Nahles im Interview „Ein schönes Auto zu fahren, das ist für mich Luxus“
Guido Bohsem und Thomas Öchsner | 27. März 2015 | Süddeutsche.de
Das neue Narrativ beginnt harmlos:
„Ich glaube, da gibt es viele Vermutungen, oft auch Vorurteile. Wir werden sehen, wenn der Bericht Ende 2016, Anfang 2017 vorliegt, welche sich belegen lassen und welche nicht.“
Dann kommt Nahles zur Sache und sagt, sie halte nicht viel von der weit verbreiteten Annahme, wonach jeder, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, arm ist.
„Der Ansatz führt leider schnell in die Irre. Angenommen, der Wohlstand in unserem Land würde explodieren, dann bleibt nach dieser Definition das Ausmaß an Armut gleich“, sagte sie. Es handele sich um eine relative Größe, die zwar die Spreizung der Einkommen zeige – aber nicht die absolute Armut.
Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales hebt damit politisch ab, Nahles setzt mit einem „fiktionalen Narrativ“ auf die reale Armutsdefinition auf, wie sie etwa von dem Paritätischen Wohlsfahrtsverband verteidigt wird. Die Armutsdefinition, wonach der Maßstab unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens gelte, will Nahles weiter nach unten verschieben.
Nahles will sich stattdessen stärker um eine kleinere Gruppe kümmern. Nahles sieht die Gefahr, mit solchen Berechnungen laufe die Politik und die Gesellschaft Gefahr, den Blick für die wirklich Bedürftigen zu verlieren.
„Es gibt zum Beispiel mehr illegale Einwanderer und sehr viele jüngere Erwerbsgeminderte, da haben wir es mit wirklicher Armut zu tun.“
Auch in der ZEIT meldete sich Nahles zu Wort:
Armutsbericht :Nahles will Vorurteile über Arme und Reiche aufklären
27.3.2015 | ZEIT online
Nahles reagierte damit auf den im Februar vorgelegten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der zwölf Millionen Menschen als arm bezeichnet, und vor allem die „regionale Zerrissenheit“ beklagt.
Neue Armutspolitik neoliberaler Prägung in Vorbereitung?
Was Nahles genau vorhat, ist noch nicht offen gelegt. Das neue „Narrativ“ ist jedoch ein Warnzeichen. In ZEITonline wurde Nahles neues fiktionales Narrativ auch gleich scharf kritisiert:
Andrea Nahles definiert die Armut weg
Mark Schieritz | 27. März 2015 | ZEITonline Blog
Zitat: „Frau Nahles ärgert sich, weil kürzlich ein Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands ergeben hat, dass die relativ gemessene Armut einen neuen Höchststand erreicht hat. Das passt natürlich nicht zu der Erzählung, dass es in diesem Land allen besser geht. Über die mediale Aufbereitung des Berichts kann man streiten. Aber er hat seine methodischen Prämissen offengelegt. Ist das ein Grund, mal eben die statistischen Konzepte anzuzweifeln?“
Der Autor Mark Schieritz verteidigt die bisher geltenden Definitionen:
„Der absolute Armutsbegriff misst, ob die zur Verfügung stehenden Mittel ausreichen, um die Existenz zu sichern. Der relative Armutsbegriff misst, ob gesellschaftliche Teilhabe möglich ist. Beide haben ihre Berechtigung. Man muss sie nur – wie immer bei ökonomischen Indikatoren – richtig lesen und mit der gebotenen Sorgfalt interpretieren.“
Schierritz schließt mit einem Verweis auf die Weltbank und zitiert aus deren „Poverty Manual“, „die in Sachen Armutsbekämpfung die deutsche Sozialdemokratie links zu überholen scheint.“
Ist eine neue Armutsdefinition notwendig?
Eine neue Armutsdebatte steht ins Haus, denn in einem Sozialstaat, dessen Sozialsystem nicht mehr sicher und generationenfest ist, stehen bald dramatische Perspektiven und Entscheidungen zur Debatte.
Grundsicherung, Grundsicherung im Alter, Hilfen zum Lebensunterhalt und selbst der Mindestlohn reichen nicht mehr hin, damit sich Menschen selbstständig und frei oder über bezahlte Arbeit über die „relative Armutsgrenze“ hinausarbeiten können.
Das Wirtschaftswunderland ist für die „relativ Armen“ abgebrannt.
Steigende Mieten und Lebenshaltungskosten fressen in den gefragten Ballungsräumen praktisch alle realen Gewinne durch Erhöhung der Sozialtransfers auf. Gleichzeitig verfestigt sich die Arbeitslosigkeit und der Übergang in neue Arbeit ist erschwert.
Vor allem sind über 15% der Jugendlichen in relativer Armut gefangen, und werden wohl kaum je in die Lage gelangen, mit den Anforderungen der Wettbewerbs- und Wissensgesellschaft mitzuhalten.
Die Politik ist gefordert, sich mit der Realität und sozialen Mißständen genauer zu befassen, statt neue „fiktionale Narrative“ zu entwickeln.
Die strategische Frage lautet:
„Ist ein Land mit einem nicht mehr nicht generationenfesten Sozialsystem und einem „Armutsklotz“ von über 15% der Bevölkerung überhaupt noch zukunftsfähig?“
Alarmierende Befunde des Armutsberichtes
Die Befunde des Armutsberichtes lesen sich inzwischen wie ein sozialer Abstieg eines einstigen Wohlfahrtsstaates:
Die wichtigsten Befunde im Überblick (Zitat):
1: Die Armut in Deutschland hat mit einer Armutsquote von 15,5 Prozent ein neues Rekordhoch erreicht und umfasst rund 12,5 Millionen Menschen.
2: Der Anstieg der Armut ist fast flächendeckend. In 13 der 16 Bundesländer hat die Armut zugenommen. Lediglich Sachsen-Anhalt verzeichnet einen ganz leichten und Brandenburg einen deutlicheren Rückgang. In Sachsen ist die Armutsquote gleich geblieben.
3: Die Länder und Regionen, die bereits in den drei vergangenen Berichten die bedenklichsten Trends zeigten – das Ruhrgebiet, Bremen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern – setzen sich ein weiteres Mal negativ ab, indem sie erneut überproportionale Zuwächse aufweisen.
4: Die regionale Zerrissenheit in Deutschland hat sich im Vergleich der letzten Jahre verschärft. Betrug der Abstand zwischen der am wenigsten und der am meisten von Armut betroffenen Region 2006 noch 17,8 Prozentpunkte, sind es 2013 bereits 24,8 Prozentpunkte.
5: Als neue Problemregion könnte sich neben dem Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen auch der Großraum Köln/Düsseldorf entpuppen, in dem mehr als fünf Millionen Menschen leben, und in dem die Armut seit 2006 um 31 Prozent auf mittlerweile deutlich überdurchschnittliche 16,8 Prozent zugenommen hat.
6: Erwerbslose und Alleinerziehende sind die hervorstechenden Risikogruppen, wenn es um Armut geht. Über 40 Prozent der Alleinerziehenden und fast 60 Prozent der Erwerbslosen in Deutschland sind arm. Und zwar mit einer seit 2006 ansteigenden Tendenz.
7: Die Kinderarmut bleibt in Deutschland weiterhin auf sehr hohem Niveau. Die Armutsquote der Minderjährigen ist von 2012 auf 2013 gleich um 0,7 Prozentpunkte auf 19,2 Prozent gestiegen und bekleidet damit den höchsten Wert seit 2006. Die Hartz-IV-Quote der bis 15-Jährigen ist nach einem stetigem Rückgang seit 2007 in 2014 ebenfalls erstmalig wieder angestiegen und liegt mit 15,5 Prozent nun nach wie vor über dem Wert von 2005, dem Jahr, in dem Hartz IV eingeführt wurde.
8: Bedrohlich zugenommen hat in den letzten Jahren die Altersarmut, insbesondere unter Rentnerinnen und Rentnern. Deren Armutsquote ist mit 15,2 Prozent zwar noch unter dem Durchschnitt, ist jedoch seit 2006 überproportional und zwar viermal so stark gewachsen. Keine andere Bevölkerungsgruppe zeigt eine rasantere Armutsentwicklung.
25 Jahre neoliberale Gesamt-Steuerung der Volkswirtschaft hinterlassen in Deutschland eine breite Schneise sozialer und regionaler Verwüstung, die auch nicht mit Zuwanderung heilbar ist.
Die großen Volksparteien SPD und CDU werden ihr strategisches Versagen und die alarmierenden volkswirtschaftlichen Konsequenzen auch nicht auf Dauer mit neuen „Narrativen“ schönreden können!
Weitere Informationen:
Paritätischer Gesamtverband: Die zerklüftete Republik – Link