/// Kolumne /// – Die Vergangenheit von Andrej Holm, neu berufener Staatssekretär in der neu gegliederten Senatsverwaltung für Wohnen, dominiert derzeit die politische Debatte in Berlin. Der am 8. Oktober 1970 in Leipzig geborene Andrej Holm stammt aus einer besonders regimetreuen Familie, sein Vater wurde in Moskau geboren. Nach seinem Abitur begann Holm im September 1989 eine Grundausbildung im zum Ministerium für Staatssicherheit gehörenden Wachregiment Feliks Dzierzynski mit dem Ziel einer späteren Tätigkeit im Ministerium. Nur wenige Wochen später, am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Das Wachregiment Feliks Dzierzynski wurde nach der Wende in der DDR Anfang 1990 aufgelöst.
Holm begann 1990 als Zwanzigjähriger ein Studium der Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin. So manche älteren Kader aus dem Wachregiment Feliks Dzierzynski wechselten zu dieser Zeit mit Unterstützung von dubiosen Krediten aus dem ehemaligen SED-Parteivermögen in die Immobilienwirtschaft, und verdingten sich Grundstücksgeschäften, Bauspekulation und Bausanierung den Start in die neue Bundesrepublik. Einige dieser ehemaligen Kader haben es bis zum Hochhaus-Eigentümer gebracht, oder residieren inzwischen mit internationalen Holding-Strukturen in Wien, London und britischen Steueroasen.
Wende zum Sozialwissenschaftler – statt zum Immobilienökonom
Für die Berliner Stadtdebatte ist der Lebenslauf von Andrej Holm schon interessant, weil er sich mit „städtebaulichen Prozessen befasst hat, die für das Verständnis der Zukunft der Städte bis heute von grundlegender Bedeutung sind.
Holm studierte von 1990 bis 1997 an der Humboldt-Universität Sozialwissenschaften und promovierte 2004 mit einer Arbeit zum Thema „Restrukturierung des Raumes und gesellschaftliche Macht im Sanierungsgebiet.“ . Seit Abschluss seines Studiums arbeitete er mit wenigen Unterbrechungen als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen deutschen Hochschulen. Von 1998 bis 2001 war er Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Veränderte Bedingungen der Stadterneuerung – Beispiel Ostberlin“ unter Leitung von Hartmut Häußermann. In den Jahren 2005/06 wirkte er als Koordinator am Projekt „The European URBAN Experience – the Academic Perspective“ mit. In den Jahren 2008/09 war er am Institut für Humangeographie der Universität Frankfurt/Main angestellt und koordinierte dort ein Forschungsprojekt zu den „Neuordnungen des Städtischen im neoliberalen Zeitalter“. Von 2009 bis 2011 übernahm der die Vertretung der Lehraufgaben für den Bereich Stadtforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky-Universität in Oldenburg. Seit dem Sommersemester 2011 forscht und lehrt er wieder am Lehrbereich Stadt- und Regionalsoziologie der Humboldt-Universität zu Berlin.
Seine damalige Orientierung in der oppositionellen Marxistischen Jugendvereinigung Junge Linke und dem Oppositionsbündnis Vereinigte Linke (VL) muss aus heutiger Sicht als konkrete „Interessenwahrnehmung“ auf Mieterseite betrachtet werden.
Holms Weg in die Hausbesetzerbewegung hat im Westen der Bundesrepublik auch mancher andere Politiker durchlaufen, der sogar ministrabel wurde, oder langjähriger Bundestagsabgeordneter.
Die Umstände der Zuordnung Holms zum autonomen Millieu wirft eher ein fragwürdiges Licht auf Methoden des Verfassungsschutzes, der auf überraschende Worte wie „Gentrifikation“ und „Prekarisierung“ stieß – und falsche Schlußfolgerungen zog.
Eines darf man Andrej Holm in jedem Fall attestieren – er war immer konsequenter Interessenpolitiker auf Mieterseite – und immer in verschiedenen Stadtteil- und Mieterinitiativen aktiv.
Gentrifizierung und Prekarisierung
Der von Holm in die Stadtdebatte eingeführte Begriff der „Gentrifizierung“ war zum Datum des Mauerfalls schon über 100 Jahre alt. Wer Quellenstudium betreiben will, findet den Begriff erstmals in den „Memoirs and Proceedings of the Manchester Literary & Philosophical Society, 1888 – der „Manchester Literary and Philosophical Society“.
Die britische Stadtsoziologin Ruth Glass hat den Begriff „Gentrifizierung“ 1964 in Architektenkreisen populär gemacht, als sie den Bevölkerungswandel in den ursprünglich vor allem von Arbeitern bewohnten Londoner Stadtteil Islington untersuchte, und den Zuzug von finanzstärkeren Mittelschichtfamilien beobachtete, die Stadtteil in seiner sozialen Struktur signifikant verändert hatten. Glass sah eine Analogie zu Vorgängen im 18. Jahrhundert, als Teile des niederen Adels (Gentry) vom Rand der Städte zurück in die Zentren zogen. Vorgänge, die sich in Berlin in der Gründerzeit entsprechend vollzogen, und den Bau der heute so beliebten und prächtigen Gründerzeithäuser in der Innenstadt vorantrieben.
Der Begriff Prekarisierung stammt aus der französischen Arbeitssoziologie der 1980er-Jahre und beschreibt einen tief greifenden Wandel in der Arbeitswelt, nämlich die stetige Zunahme der Zahl von Arbeitsplätzen mit zu geringer Einkommenssicherheit, also Arbeitsplätze, mit denen der Betroffene nicht seine Existenz bestreiten kann.
Nach einer Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) liegt eine prekäre Beschäftigung dann vor, wenn der Erwerbsstatus eine nur geringe Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie wenig Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der Arbeitssituation gewährt, der arbeitsrechtliche Schutz lediglich partiell gegeben ist und die Chancen auf eine materielle Existenzsicherung durch die betreffende Arbeit eher schlecht sind.
Nach der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung „Gesellschaft im Reformprozess“ (2006) gehören zum Prekariat die Untergruppen des abgehängten Prekariats, die autoritätsorientierten Geringqualifizierten sowie ein Teil der selbstgenügsamen Traditionalisten. Die Studie nennt für das abgehängte Prekariat die Zahl von 6,5 Millionen Deutschen (das entspricht acht Prozent der Gesamtbevölkerung). Frank Karl von der Friedrich-Ebert-Stiftung betonte, dass der Begriff Neue Unterschicht in der Studie nicht vorkomme. Die Medien haben diese Studie jedoch schon vor ihrer Veröffentlichung unter dem Titel Unterschichtsstudie diskutiert.
Heute – zehn Jahre nach Veröffentlichung dieser Studie – werden alljährlich die „Armuts- und Reichtumsberichte“ der Bundesregierung veröffentlicht, die eine immer weitere Spaltung der Gesellschaft statistisch nachweisen. – Eine Entwicklung, die sich inzwischen auch zerstörerisch auf das politische System auswirkt, denn eine wachsende Zahl von Mitbürgerinnen und Mitbürgern leben in nackter Angst, weil sie die gewachsenen wohn- und Lebenshaltungskosten nicht decken können.
Stadtdebatte – oder Stasi-Debatte?
Die Not der Mieter ist längst auch eine Not der Wohnungswirtschaft – auch wenn der Attraktivitätsbom Berlins noch anhält. Viele Mieter sind heute praktisch „implizit überschuldet“, sobald sie von ihren prekären Arbeitseinkommen in die noch prekäreren Renteneinkommen hineinwachsen. Sinkende Renteneinkommen – steigende Abgabenlasten – weltweiter Wettbewerb – der Sprengsatz ist schon vor langer Zeit gezündet worden.
Diejenigen, die nun Andrej Holm zum „Stasi-Muster-Fall“ hochjazzen, müssen sich fragen lassen, wie viele Opfer auf Mieterseite noch in Kauf genommen werden sollen, wie viele staatliche Interventionen und Zuschüsse noch gezahlt werden sollen – um eine spekulative Wohnungs- und Mietenpolitik immer weiter voranzutreiben?
Hohe Mieten und hohe Steuern stehen heute in einem fatalen Zusammenhang, der die Zukunft des ganzen Landes bedroht. Die sozioökonomische Tektur der Volkswirtschaft trägt die Anspruchshaltung der Kapitalbesitzer nicht mehr mit.
Statt einer Debatte um Vergangenheit wird eine Zukunftsdebatte gebraucht: eine konkrete Stadt-Debatte – statt einer fiktional-symbolischen Stasi-Debatte und einem Shitstorm interessierter „Noch-Mehr-Möchtegern-Investoren.“
Wenn man nun heute Andrej Holm Vorwürfe machen muss, dann vor allem den Vorwurf, sich keine professionelle Legende zugelegt zu haben, mittels derer heute manche „rechtzeitig parteilose Kommunisten“ zur Wendezeit in die Privatwirtschaft und Immobilienwirtschaft gewechselt sind.
Jeder mache sich ein eigenes Bild! Ein Berlin mit 86% Mietwohnungen braucht mindestens einen „Mieten-Politiker“!
VIDEO: Gentrification heißt Verdrängung – Andrej Holm im Gespräch – Teil 1
VIDEO: Andrej Holm im Gespräch (Teil 2): Stadt und Kapital
VIDEO: Andrej Holm im Gespräch (Teil 3): Recht auf Stadt